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Titel252013

NATO-Lücke auf dem Balkan  (Ralph Hartmann)

Mitte November weilte ein hoher ausländischer Gast in Belgrad. Sein Empfang auf dem Plateau vor dem »Serbien Palast« in Neu-Belgrad – vor der Zerschlagung Jugoslawiens hieß er »Palast der Föderation« – war beeindruckend, eben so, wie es sich beim Besuch eines Staatspräsidenten geziemt: Der Gast kam mit einer außerordentlich langen Kolonne dunkler Limousinen und Jeeps des Personenschutzes der Militärpolizei und des Innenministeriums. Nach der Meldung eines hochrangigen Offiziers intonierte eine Militärkapelle die Hymnen beider Staaten. Als der letzte Ton verklungen war, schritten Gast und Gastgeber die angetretene Ehrenformation der serbischen Armee ab, die etwas später sogar im Paradeschritt an dem hochrangigen Besucher vorbeidefilierte. Wie gesagt, alles entsprach dem protokollarischen Zeremoniell, das für den Empfang eines ausländischen Staatschefs vorgesehen ist.

Doch der hochgeehrte Gast war weder ein Präsident noch ein König. Er war lediglich ein Minister, allerdings der Verteidigungsminister Rußlands, Sergej Schoigu. In dem prächtigen, immer noch sehr modernen Palast traf der Minister auch mit dem serbischen Präsidenten, Tomislav Nikolić, zusammen, der ihm den »Orden des serbischen Banners ersten Ranges« verlieh. Im Ergebnis weiterer Unterredungen unterzeichneten der serbische Verteidigungsminister, Nebojsa Rodic, und der russische Gast drei Abkommen über eine verstärkte militärische Zusammenarbeit, darunter einen »strategischen Vertrag über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung«. Bei dieser Gelegenheit unterstrich Rodic, daß diese Zusammenarbeit »eine logische Fortsetzung der strategischen Partnerschaft beider Staaten« darstelle. Der russische Minister betonte seinerseits, daß die Beziehungen zwischen beiden Ländern »jetzt einen neuen Charakter in Übereinstimmung mit der Entscheidung des Präsidenten der Russischen Föderation erhalten«.

Im einzelnen wurden vereinbart: eine enge militär-technische Zusammenarbeit, die Ausbildung serbischer Offiziere in Rußland, gemeinsame Militärmanöver, einschließlich solcher der Luftwaffe und der Verteidigung vor Luftangriffen, eine intensivere Zusammenarbeit beider Generalstäbe sowie eine Kooperation bei der Modernisierung der serbischen Armee.

Bei der Erörterung der Lage in Kosovo unterstrich der russische Minister, daß Rußland die Politik der Belgrader Regierung und die territoriale Integrität Serbiens unterstützt. Serbischerseits wurde erklärt, daß Belgrad auch weiterhin die 2007 vom serbischen Parlament, der Skupština, verabschiedete »Deklaration über die militärische Neutralität« einhalten werde.

Der Besuch des russischen Verteidigungsministers, seine weitreichenden Ergebnisse und die höchst ungewöhnliche protokollarische Behandlung sind nicht zuletzt eine Antwort an die Adresse der NATO, die Serbien seit langem mehr oder weniger offen Avancen hinsichtlich einer Mitgliedschaft macht. Bereits Mitte des Jahres hatte die Belgrader Politika berichtet, die NATO sende »regelmäßig Signale, daß auch Serbien seinen Platz in dem Bündnis finden könne«. In diesem Zusammenhang erinnerte das Blatt an die Erklärung des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen, daß »Serbien in der Allianz willkommen« sei, wenn es die Kriterien und Bedingungen für eine Mitgliedschaft erfülle. »Die Tür der NATO«, so unterstrich er, »ist offen«.

Derartige Offerten an die Adresse Belgrads sind nicht neu. Bereits 2007 hatte der damalige US-Präsident George W. Bush Serbien im Gegenzug für eine Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos eine Mitgliedschaft in der NATO angeboten. Und der bereits erwähnte NATO-Generalsekretär hatte vier Jahre später ebenfalls eine Aufnahme in das Militärbündnis in Aussicht gestellt. Alles geschieht nach dem Motto: Erst helfen wir politisch und militärisch, die nichtpaktgebundene jugoslawische Föderation zu zerschlagen, das von den Sozialisten regierte Serbien mit würgenden Sanktionen zu schwächen, dann bombardieren wir das Land 78 Tage lang, besetzen anschließend das autonome Gebiet Kosovo, lösen es aus dem serbischen Staatsverband und gleichzeitig, wir sind ja Freunde Serbiens, bieten wir dem Land großzügig an, Mitglied in unserem Militärpakt zu werden.

Ganz so selbstlos ist das Angebot nicht. Abgesehen von der an Belgrad gerichteten Forderung, Kosovo, integraler Bestandteil der Republik Serbien, als souveränen Staat anzuerkennen, ist der imperialistische Kriegspakt daran interessiert, mit einer serbischen Mitgliedschaft die strategische Lücke auf dem Balkan zu schließen. Immerhin sind nahezu alle Nachbarn Serbiens – Kroatien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien – Mitglieder des Paktes. Die Aufnahme von Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien ist nur noch eine Frage kurzer Zeit; sie werden, so Brüssel, bereits »an die Standards der Allianz« herangeführt. Auf einer Konferenz in der serbischen Hauptstadt zum Thema »13 Jahre nach der Aggression« faßte der frühere jugoslawische Außenminister Vladislav Jovanović das strategische Ziel des Paktes so zusammen: »Ohne Serbien können sie [die führenden NATO-Staaten; R. H.] nicht den Balkan beherrschen, und wenn sie nicht die volle Kontrolle über den Balkan haben, können sie nicht weiter erfolgreich nach Osten, was ihr eigentliches Ziel ist.«

Ja, so sind die meisten Serben, sie verkennen einfach die guten Absichten der westlichen Allianz. Das geht schon lange so. Als Bush 2007 sein großmütiges Angebot unterbreitete, lehnte der damalige Regierungschef Vojislav Koštunica eine Mitgliedschaft rigoros ab und forderte »wegen der NATO-Rolle bei der Zerstückelung Serbiens und der Wegnahme von 15 Prozent unseres Territoriums [Kosovo; R. H.] … eine militärische Neutralität zu erklären«. Kurz danach verabschiedete die Skupština feierlich eine derartige Resolution.

Aber es ist bei weitem nicht nur die Staatsführung Serbiens, die einen NATO-Beitritt ablehnt. 2010 haben 200 herausragende serbische Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Kirche einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie eine NATO-Mitgliedschaft energisch ablehnten, wozu »Serbien einen zusätzlichen Grund sieht, den kein anderes Land hat und der der ganzen Welt bekannt ist: die verbrecherische Bombardierung und Zerstörung Serbiens«. Zwei Jahre danach ergab eine repräsentative Umfrage, daß über 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Serbiens eine Mitgliedschaft in dem Kriegspakt ablehnen. Lediglich 10,8 Prozent sprachen sich dafür aus.

Ja, so sind sie, die Serben: leichtfertig und undankbar. So wiederholt sich leider die Geschichte wie vor und während der beiden Weltkriege, als sie sich gegen die kaiserlichen Truppen Wilhelms II. und die Hitlerwehrmacht entschlossen zur Wehr setzten. Auf die Serben ist eben kein Verlaß!