erstellt mit easyCMS
Titel252013

Dieses Volk hat viel zu tun …  (Johann-Günther König)

Advent, Advent – die Lichtlein brennen auf den Weihnachtsmärkten, dem heimeligen deutschen Exportschlager für die Bewohner Englands. In Birmingham zum Beispiel findet dieses Jahr bereits der 13. von der Frankfurter Tourismus+Congress GmbH organisierte Weihnachtsmarkt statt. Zwischen den 180 Ständen am Victoria Square dreht sich auch ein altes Karussell – allerdings deutlich schneller als die auf den Weihnachtsmärkten hierzulande. Denn Besinnlichkeit ist für viele Briten in dem bereits ab November heftig einsetzenden Weihnachtsgeschäftstrubel nur eine kleine Draufgabe – vielmehr lockt die Chance, auf den von deutschen Unternehmen betriebenen Weihnachtsmärkten ordentlich einen draufzumachen. »Das hier ist ein Megahype«, kommentiert ein Marktbetreiber treffend das Geschehen. Warum, ist kein Geheimnis. Zwar ist das ungehemmte Trinken im Freien verpönt – nicht aber zur deutschen Importweihnachtsmarktzeit, denn für die Märkte gibt es eine nur zu willkommene Ausnahmeregelung.

Wo es schon ums Trinken geht. In London gibt es in der Nähe der legendären Fleet Street ein Pub, dessen Interieur und Geschichte es locker mit einem Weihnachtsmarkt aufnehmen können. Es heißt Blackfriar, und in ihm soll die Idee des traditionellen Gasthauses wieder aufleben. Die Kneipe residiert in dem in dieser Gegend einzig verbliebenen Gebäude aus viktorianischer Zeit. Sie nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie von jeher auf schelmische Respektlosigkeit setzt. Schon die Außenmauern sind übersät mit bronzenen Platten, von denen fette Mönche in die Runde schauen und fröhlich die Freuden des Alkohols symbolisieren. Die Bilder wiederholen sich im herrlichen Jugendstil-Dekor der Kneipe – sowohl in Bronze als auch in Terrakotta und abgesetzt gegen einen Hintergrund von beige-grauen Marmorsäulen und -platten, vergoldeten Mosaiken und glitzernden Spiegeln. Das Blackfriar zählt zu den Pub-Schätzen Londons und ist zudem so etwas wie ein Wahrzeichen in Englands Kunstgeschichte. Die an diesem bierseligen Ort zu bewundernde Kunsthandwerksarbeit ist allemal ein pint wert. Nach zwei Gläsern fallen einem dann spätestens die Spruchfriese an den Wänden des Nebenraums oder der Grotte auf. Ins Deutsche übersetzt: FLEISS IST ALLES; HAST IST LANGSAM; PRACHT IST UNSINN; WEISHEIT IST SELTEN; ERGREIFE DIE GELEGENHEIT; INDUSTRIE IST ALLES. Spätestens nach zwei pints nimmt im Zweifelsfall Heinrich Heine den Gesprächsfaden auf, und erinnert an diese Gegend nahe der Themse um 1828:
»Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer – noch immer starrt in meinem Gedächtnisse dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses – ich spreche von London. Schickt einen Philosophen nach London; bei Leibe keinen Poeten! Schickt einen Philosophen hin und stellt ihn an eine Ecke von Cheapside, er wird hier mehr lernen, als aus allen Büchern der letzten Leipziger Messe; und wie die Menschenwogen ihn umrauschen, so wird auch ein Meer von neuen Gedanken vor ihm aufsteigen, der ewige Geist, der darüber schwebt, wird ihn anwehen, die verborgensten Geheimnisse der gesellschaftlichen Ordnung werden sich ihm plötzlich offenbaren, er wird den Pulsschlag der Welt hörbar vernehmen und sichtbar sehen – denn wenn London die rechte Hand der Welt ist […], so ist jene Straße, die von der Börse nach Downing Street führt, als die Pulsader der Welt zu betrachten. Aber schickt keinen Poeten nach London! Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertriebene London erdrückt die Phantasie und zerreißt das Herz. Und wolltet Ihr gar einen deutschen Poeten hinschicken, einen Träumer, der vor jeder einzelnen Erscheinung stehen bleibt, etwa vor einem zerlumpten Bettelweib oder einen blanken Goldschmiedladen – o! dann geht es ihm erst recht schlimm, und er wird von allen Seiten fortgeschoben oder gar mit einem milden God damn! niedergestoßen. God damn! Das verdammte Stoßen! Ich merkte bald, dieses Volk hat viel zu tun. Es lebt auf einem großen Fuße, es will, obgleich Futter und Kleider in seinem Lande teurer sind als bei uns, dennoch besser gefüttert und besser gekleidet sein als wir; wie zur Vornehmheit gehört, hat es auch große Schulden [...] – und deshalb hat John Bull Tag und Nacht zu arbeiten, um Geld zu solchen Ausgaben anzuschaffen, Tag und Nacht muß er sein Gehirn anstrengen zur Erfindung neuer Maschinen, und er sitzt und rechnet im Schweiße seines Angesichts, und rennt und läuft, ohne sich viel umzusehen, vom Hafen nach der Börse, von der Börse nach dem Strand, und da ist es sehr verzeihlich, wenn er an der Ecke von Cheapside einen armen deutschen Poeten, der einen Bilderladen angaffend ihm in dem Wege steht, etwas unsanft auf die Seite stößt. ›God damn!‹«

Heinrich Heine verstummt, während eine Flasche Extra Strong Union Ale über die geschwungene Theke des Blackfriars gereicht wird. John Bull macht eine säuerliche Miene. Nicht wegen des Biers, das ist nicht schlechter als früher, nur leider empfindlich teurer in diesem auslaufenden Jahr 2013. Und überhaupt, die sinkenden Lebensstandards, die steigenden Hauspreise, die hohe Arbeitslosigkeit, die durch die kriminell spekulationswütigen Banker eingeforderten Rettungsgelder, die die Staatsschulden hochgetrieben haben, und auch der bereits angelaufene Wahlkampf für 2015 lassen bei ihm keine besinnliche Stimmung aufkommen. »Es ist bei uns ja so«, erhellt John, »wenn das Geld am Monatsende und in der Vorweihnachtszeit so knapp wird, daß das pint Bier auszufallen droht, kann man sich eine Weile mit gebackenen Bohnen auf Toast und dem Verzicht auf U-Bahnfahrten über der Thekenkante halten. Später dann hilft nur noch, sich Geld zu leihen. Das geht zwar nicht ohne weiteres im Freundeskreis, denn hohe Privatschulden hat bei uns fast jeder, und die Banken und Kreditkartenfirmen erhöhen schon länger nicht mehr die Kreditlinien. Aber an Kredithaien haben wir in London keinen Mangel, und die gewähren nur zu gern kleine payday loans für kurze Zeit.« John Bull prostet dem Heinrich gerufenen Kumpan zu und fährt fort: »Die Firma Wonga gehört mit einer jährlichen Verleihsumme von 1,2 Milliarden Pfund (rund 1,4 Milliarden Euro) zu den größten Kredithaien. Bei der habe ich mir vor drei Wochen 150 Pfund geliehen und gestern 184 Pfund brav zurückgezahlt. Die machen so happige Gewinne wie die üblen Geldverleiher zu deinen Zeiten, Heinrich. Wenn man genau nachrechnet, kommt man auf einen effektiven Jahreszins von 5853 Prozent. God damn!«