Ja, »Das Totsein ist mühsam« – wenn er nicht gleich am Anfang diesen Satz gesagt und immer wiederholt hätte, wenn er nicht, von tausenden Toten bei Schiffsuntergängen gewarnt, gestanden hätte, er fürchte wie ein Kind den Tod – nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass hier ein lebender Toter zu uns spricht und sichtbar agiert mit der Hand auf der eigenen Urne. Er, der Dirigent des Orchesters, das sich auf einem Schiff, der CS-Europa, zusammenfand, um seine Asche in die Ägäis zu streuen. Er ist noch im Tod groß und mächtig – kann sich alles erlauben. Kann mit Schwimmflossen herumschlurfen oder im feuerroten Abendkleid wie eine Diva singen. Er hört sich seinen letzten Brief an die Orchestermitglieder an, den der Ersatzdirigent verliest.
Oder ist alles doch ganz anders? Im Hamburger Schauspielhaus, das Stück »Schiff der Träume – ein europäisches Requiem« nach einem Film (1983) von Federico Fellini. Regie: Karin Beier, neben Stefanie Carp und Christian Tschirner auch verantwortlich für die Textfassung. Gegenüber dem Schauspielhaus am Hauptbahnhof kampieren in Zelten Flüchtlinge – Mitglieder des Theaters engagieren sich für sie. Das ist die Realität. Fellini zeigte eine untergehende Gesellschaft kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Serbische Flüchtlinge, aus dem Mittelmeer aufgefischt. In Hamburg sind es Afrikaner. Fünf schwarze buntgekleidete Schauspieler-Tänzer, die kurz vor der Pause über die Bühne stürmen, die fidele Trauergesellschaft durcheinanderwirbeln (York Dippe, Patrick Joseph, Ibrahima Sanogo, Michael Sengazi, Sayouba Sigué). Sie steigen über die Zuschauer hinweg bis in die hinteren Reihen. Stören. Zaghafte Einwände auf der Bühne: »This is a Trauerfeier.« Entsetztes Festhalten: »Nicht die Urne, this is ours.« Sie hören, dass es teuer war, das Schiff zu mieten. Der Chefsteward (im Programmheft theatertüchtig: »Chefstuart«) hätte die Flüchtlinge lieber im Unterdeck, unsichtbar. Sie mussten aufgenommen werden, ihr Boot war in Seenot geraten. Streiten sie? Ihre Sprache – unverständlich. Was wollen sie denn in Europa, eine dumme Frage. Einer antwortet in Deutsch: »Wir sind gekommen, um euch zu retten. Ihr seid so müde, so traurig. Wir haben uns auf den Weg gemacht, um euch zu helfen. Jetzt sind wir da.« Verständnisloses Schweigen. Europa als »demographische Katastrophe« wird an die Wand gemalt (auch real als Video-Einspielungen). Aber: »Wir bringen dem Volkskörper neue Gene« – einer der Fremden preist ihre starken Muskeln, die guten Zähne an. Noch kein Sklavenmarkt. Nein, die fünf Schwarzen tanzen nach stark rhythmusbetonter Musik, kein Kammerorchester wie vorher. Und: Jeder trage des anderen Last? »Wir möchten die Probleme mit euch teilen, wir nehmen gern eure Probleme.« Und er zählt auf, was gutsituierte Europäer so beschäftigt. Die Fünf klettern ins Publikum, Fragen, was der Platz da vorne kostet: »Sechzig Euro.« Ach, »Geld spielt für mich keine Rolle«. Sie wollen das Theater übernehmen, alles anders machen. Keine Nackten mehr und sowas. Fragen ans Publikum: »Was sollen wir spielen? Horrorstücke?« »Ich habe den Prediger aufgefressen«, sagt einer so leichthin, wohlwissend, dass Vorurteile heute anders geartet sind. Afrikaner tanzen, bewegen sich geschmeidig wie ein Tier.
Nach der Pause diskutieren vier schwarze Professoren englisch miteinander, am Tisch sitzend im hellen Licht der Aufklärung. Hinten an der Wand: Videos über »aussterbende Arten«. Die Germans? Bilder aus Altenheimen. Die Afrikaner wollen helfen. Einer schildert, malt es aus, demonstriert mit dem ganzen Körper, wie es ist, wenn einer ertrinkt – wenn ein Kind ertrinkt. Das Ertrinken eines Kleinkindes wird oft nicht bemerkt. Aber, er weiß, was man sagt bei uns: »Wir schaffen das!« Frage ans Publikum: »Wie viele sichere Herkunftsländer gibt es in Afrika?«
Die kleine Blonde (Kathrin Wehlisch), die schon mal in Engelsflügeln und mit bloßen Brüsten herumschwirrte, bittet um ein Handy. Nimmt es auseinander. Erklärt: Es gibt kein Handy ohne Rohstoffe aus Afrika. Das Coltan – sie möchte es ihnen zurückgeben, hier. Werden doch in Afrika defekte Elektronikgeräte ausgeweidet, um die kostbaren Innereien zu retten. Oft von Kindern. Das wird nicht gesagt, das hat der Zuschauer im Hinterkopf. Die Afrikaner tanzen, mal Ballett russisch-europäischer Schule, dann eine Mischung: pseudo-afrikanischer Stil.
Der Anfang des Abends, vielleicht neunzig Minuten, war sehr unterhaltsam. Das moderne Orchester auf dem Bestattungstrip übers Mittelmeer, geschart um die Urne seines Chefs, des Dirigenten. War es nun der sehr lebendige, »Wolfgang« genannte Untote? Josef Ostendorf, der selbst irgendein Schlaginstrument bedient und mit seinen Schwimmflossen zusätzlich Töne erzeugt. Möglich. Sein Stellvertreter (Charly Hübner) mit Pferdeschwanz versucht, das Hauptwerk des Verstorbenen »Human Rights N° 4« aufzuführen. Später werden die Afrikaner dazu herangezogen. Der Text wird ihnen erklärt. Sie werden aufgestellt: »Du hier, du hier. Die Hände hoch gereckt.« Revolutionär? Fäuste. »Ich verstehe«, sagt ein Schwarzer. »Ja, genauso, aber leiser.« Unmut: »You are actor of Schauspielhaus, nicht Direktor!« Ein leises Aufbegehren. Liberté, Egalité ... nicht hier.
Bevor die Fremden das Schiff betreten hatten, gab es viel Spaß. Die weibliche, ungeschickte Servicekraft (Lina Beckmann) demonstriert ihr Unvermögen gekonnt, eine Glanznummer. Immer wieder korrigiert vom Chefsteward (Jan-Peter Kampwirth), der mit Gong zum Dinner bittet. Die Schiffskabinen sind einsehbar, übereinandergestapelt wie ein Regal, ohne Möbel (Bühne und Kostüme: Johannes Schütz). Immer präsent ist die Urne auf einem Tischchen, das im Trubel – es wird kräftig getrunken – umfällt, Asche wird verstreut. Die Servicekraft will einen Staubsauger holen. Entsetzen: Das ist doch Wolfgang!
Schließlich füllt sie Mehl in die Urne. Irgendetwas muss ja in die Ägäis gestreut werden. So slapstickt es sich dahin, und man hofft auf den zweiten Teil. Aber natürlich, das muss rein: Einer der Afrikaner will die Speisekarte und Rotwein. Welchen? Alle sieben. »Sie wissen, dass Sie das bezahlen müssen«, mahnt die Servicekraft und verlangt seine Kreditkarte. Dann ein Tanzen, Schwarz und Weiß zu einer Hully-Gully-Musik. Verbrüderung. Ein afrikanisches Kleid, schön bunt – die Sängerin ist glücklich. Sie (Julia Wieninger), die eigentlich die Stille liebt. Eine Schiffssirene tutet. Der Chefsteward verkündet, dass die Flüchtlinge ausgeliefert werden müssen nach dem Triton-Abkommen. Die Afrikaner, gezielt, mit sanfter Gewalt hinausbefördert. »Kommen Sie mit, nur noch ein paar klitzekleine Formalitäten. Sie verlassen jetzt diesen Ort. Hier geht es lang – ein bisschen zackig hier.« Ein isländisches Patrouillenschiff soll sie aufnehmen. Verlegenes Schweigen. »Da muss man doch etwas tun. Sie könnten doch ein Teil des Orchesters – Schlagzeug beispielsweise ...«, so die Sängerin in ihrem gemütlichen Österreichisch, hilflos. Sie will helfen, aber dann kommt ganz schnell die Frage auf: »Was kostet ein Flüchtling?« und viele, viele Aber-Sätze. Und: »Unsere Antwort kann nur eine künstlerische sein.« Das Schiff dröhnt, die Kabinen stellen sich quer. Und die Geringste von allen, die Servicekraft, schreit Drohungen ins Publikum: »Ihr seid der Kleingeld-Kontinent. Ich schaff euch ab. In eurer Gegenwart wird Gewalt zur Pflicht.«
Dann ein Zurück zum Theater. Alles war als ein Integrations-Training gedacht: Deutschland – Afrika. »Das habt ihr gut gemacht. Nächste Woche nehmen wir uns den Nahen Osten vor.« Alles kracht zusammen.