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Titel2515

Neoliberale Speerspitze Großbritannien  (Johann-Günther König)

Höchste Zeit für die legendäre »Weihnachtsgeschichte« (»A Christmas Carol in Prose«) von Charles Dickens, die erstmals am 19. Dezember 1843 erschien. Zur Erinnerung: Ebenezer Scrooge schlägt die Einladung seines Neffen zum Weihnachtsessen aus, beschimpft seinen treuen Mitarbeiter Bob Cratchit, ein fauler Hund zu sein, und weigert sich, den Armen an den Feiertagen Geld zu spenden. In der Nacht erscheint prompt der Geist von Jacob Marley, Scrooges ehemaligem Geschäftspartner. Er rät dem alten Geizhals, schleunigst sein Leben zu ändern. Hinzu gesellen sich drei weitere Geister, die diesen Wandel gezielt befördern. Der erste Geist führt Scrooge zurück auf Weihnachtsfeste seiner Kindheit, auch zu jenem, an dem Ebenezer seine große Liebe kennenlernte und schließlich zu jenem, an dem er diese große Liebe des Geldscheffelns wegen verlässt. Der zweite Geist bringt Scrooge zu seinem verarmten Sekretär Bob Cratchit und dessen Familie. Obwohl er fast nichts besitzt, feiert er mit seiner Familie besinnlich Weihnachten, spricht zumal einen Trinkspruch auf Ebenezer aus. Sein jüngster Sohn Tim, der nur an Krücken laufen kann und sehr abgemagert ist, weckt Scrooges Mitgefühl. Der dritte – stumme – Geist bringt den bereits erschöpften Alten zu einer Weihnacht der Zukunft, auf der die Rede von einem alten Geizhals ist, der vor kurzem verstorben sei und dem niemand nachtrauere. Als Scrooge am Weihnachtstag wieder aufwacht, kauft er umgehend einen großen Truthahn für Bob Cratchit und seine Lieben und nimmt die Einladung seines Neffen zum Weihnachtsessen an. Zudem spendet er eine großzügige Summe für die Armen und erleichtert dem kleinen Tim das Leben.


Dickens‘ »Weihnachtsgeschichte« aus dem 19. Jahrhundert enthält unüberhörbare sozialkritische Töne. Nicht zufällig wurde die Figur Ebenezer Scrooge unsterblich – ein unsozialer Geizhals wird im angelsächsischen Raum seitdem als scrooge bezeichnet. Scrooge, soviel steht für mich fest, ist heutzutage gleich ein ganzes Team, ist die Tory-Regierung unter Premier David Cameron. Sie zeigt sich extrem geizig gegenüber der Masse der britischen Bevölkerung – vor allem aber gegenüber all denjenigen Menschen und Institutionen im Lande, die auf sozialstaatliche Fürsorge und Gerechtigkeit ganz besonders angewiesen sind. Das zeigt sich übrigens schon beim Studium der Regale mit Zahnpflegeartikeln in Apotheken- und Drogeriefilialen von Konzernen wie Boots. Dort liegen variantenreich Reparatursets für herausgefallene Zahnfüllungen et cetera. Der Besuch einer einschlägigen Praxis kommt die Briten teuer zu stehen – Ebbe in der Haushaltskasse verleitet zum selbständigen »Beheben« von Zahnschäden. Anders formuliert: Die sich stetig vergrößernde Schere zwischen Arm und Reich beschert der Privatwirtschaft völlig neue Profitquellen.


Die von Charles Dickens im 19. Jahrhundert angeprangerten Missstände schienen in den 1960er und 70er Jahren wie weggeblasen – doch spätestens seit dem Aufkommen des Thatcherismus unter der »eisernen« Premierministerin Margaret Thatcher (sie war vom Mai 1979 bis November 1990 an der Macht) feiern sie wieder garstige Urständ. Denn seitdem drängt die Politik auf die Verschlankung des Wohlfahrtsstaats, ebnet dem »Marktfundamentalismus« beziehungsweise ökonomischen Individualismus den Weg, befördert soziale Ungleichheit und stimuliert einen traditionellen Nationalismus, der auch außenpolitisch immer virulenter wird. Seit der Wahl im Mai 2015 sind die Tories wieder allein an der Macht, zielt David Cameron im Zusammenspiel mit einigen seiner tonangebenden Minister darauf, die neoliberale Agenda von »Baroness« Thatcher endgültig in der britischen Gesellschaft hoffähig zu machen und sie heftig zu verschärfen. Sein mit Finanzminister George Osborne aufgelegter Sparkurs übertrifft die Einsparungen unter Thatcher bereits deutlich. Als Ende dieses Novembers die Finanzplanung (spending review) für die kommenden Jahre verkündet wurde, stand fest, dass die Verwaltungsaufgaben des britischen Staats so stark verringert werden wie nie zuvor. Bis Ende des Jahrzehnts soll die Staatsquote – sprich der Anteil der Staatsausgaben an der Wirtschaftsleistung des Landes – auf 36,5 Prozent sinken. In Deutschland beträgt sie gegenwärtig immerhin 44 Prozent. Zwar konnte Osborne seinen Plan, diverse Steuererleichterungen für gering verdienende und mehrere Kinder aufziehende Familien zu streichen, nicht durchsetzen, weil selbst viele Tories das ablehnten. Dennoch bleiben bereits beschlossene Kürzungen in Kraft, sind mehr als drei Millionen Haushalte von Sozialleistungseinsparungen betroffen, werden weiterhin die Gutverdiener besser gestellt und die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen zusammengestrichen. Für die vielen Millionen low paid families – die gering verdienenden Familien – sind harte Zeiten angebrochen. Und nicht nur für sie. Auch für die Gewerkschaftsbewegung stehen die Zeichen auf Sturm (siehe Ossietzky 16/2015). Im November fand im Unterhaus die dritte Lesung des vom extrem neoliberalen Wirtschaftsminister Sajid Javid eingebrachten Gesetzentwurfs für ein »Gewerkschaftsgesetz« statt. Javid will zukünftig verhindern, »dass die Öffentlichkeit durch Streikmaßnahmen beeinträchtigt wird«. Nicht zuletzt die Transportgewerkschaften und die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst will er schwächen, denn sie führen seit Jahren die meisten Arbeitskämpfe durch. »Beeinträchtigungen der Öffentlichkeit« gab es 2015 etwa durch die Streiks bei der Londoner U-Bahn, wo Personal abgebaut und längere Arbeitszeiten durchgesetzt werden sollen. Die laufenden Stellenkürzungen, Schließungen öffentlicher Einrichtungen und Privatisierungen machen gewerkschaftliche Gegenwehr alternativlos – eben deshalb sieht der Gesetzentwurf die Einführung einer Mindestbeteiligungsquote von 50 Prozent bei der Durchführung von Urabstimmungen vor; im öffentlichen Dienst und Transportwesen müssten zudem mindestens 40 Prozent aller Stimmberechtigten für Kampfmaßnahmen votieren, ehe ein entsprechendes Urabstimmungsergebnis umsetzbar wäre. Schlimmer noch, Streikposten sollen zukünftig gezwungen werden, ihre persönlichen Daten – Name, Arbeitsplatz, Adresse – vor dem Streikbeginn der Polizei zu melden. Dadurch würde eine Datenbank gewerkschaftlicher Aktivisten entstehen, die die in Großbritannien ohnehin schon bestehenden »schwarzen Listen« der Arbeitgeber erheblich munitioniert. Auf der Liste der Baukonzerne zum Beispiel stehen derzeit mehr als 3000 Arbeiter, die durch gewerkschaftliche Aktivitäten »aufgefallen« und inzwischen arbeitslos sind. In England ist es kein Geheimnis, dass es eine Kooperation zwischen Geheimdiensten und Baufirmen gab, um zielsicher vorgehen zu können. Sollte der Gesetzentwurf das Unterhaus passieren, wird die politische Arbeit als Streikposten endgültig so etwas wie eine Garantie für zukünftige Arbeitslosigkeit beinhalten.


Dreht sich Charles Dickens unruhig im Grabe herum? Nach der verheerenden Wahlniederlage der Labour Party trat Ed Miliband sofort vom Parteivorsitz zurück. Die Neuwahl am 12. September (an der alle Parteimitglieder teilnehmen durften und auch Leute, die sich für drei Pfund als supporter hatten registrieren lassen), brachte überraschend den sogenannten Links-Außen-Kandidaten Jeremy Corbyn an die Parteispitze. Die Kandidatin Liz Kendall aus dem Blair-Lager, die sich für die hierzulande von Schröder durchgesetzte Agenda-Politik stark gemacht hatte, kam nicht zum Zuge. Corbyn, Abgeordneter für den Londoner Stadtteil Islington, gehörte nun zu den ersten, die das geplante Gewerkschaftsgesetz als Skandal brandmarkten – er bezeichnet es als einen »nackten Angriff auf alle arbeitenden Menschen« und stellt in Aussicht, er würde es umgehend widerrufen, wenn Labour wieder Regierungsmacht hätte. Dass der prinzipientreue Pazifist und Demokrat Jeremy Corbyn keinen leichten Stand im britischen Politikgetriebe und auch in seiner Partei haben wird, zeigte sich jüngst bei der Abstimmung über die Beteiligung Großbritanniens an »Luftschlägen« gegen die Terrormiliz IS. Er überließ es den Labour-Abgeordneten, individuell dafür oder dagegen zu stimmen. Das Parlament nickte den militärischen Einsatz auch mit Labour-Stimmen mehrheitlich ab – Corbyn selbstverständlich nicht. Fehlt noch ein Ausblick ins Jahr 2016. Wohl im Herbst werden die Briten darüber abstimmen, ob sie aus der EU austreten wollen. Cameron wiederum nutzt das Referendum als Druckmittel gegenüber den Gremien der EU, um Sonderregelungen für Großbritannien durchzusetzen, die nach dem geltenden Lissabonner-Vertrag nicht zulässig sind. Kommt der Brexit? Umfragen zufolge womöglich. Aber wie heißt doch die bewährte englische Regel – eben: Abwarten und Tee trinken.

Von Johann-Günther König erschien vor wenigen Wochen im zu Klampen Verlag: »Das große Geschäft. Eine kleine Geschichte der menschlichen Notdurft«, 254 Seiten, 24, 80 €.