Eigentlich will Chrisenthea Goba, Studentin an der Technischen Universität von Kapstadt, an diesem letzten Freitag im Oktober mit uns in ihr Büro, das ganz in der Nähe der größeren Universität Kapstadt gelegen ist. Chrisenthea, Ingenieursstudentin und Mutter einer vierjährigen Tochter, hat es sich gemeinsam mit einigen Kommilitonen zur Aufgabe gemacht, ein unabhängiges Informationsportal für bedürftige Studenten zu starten. Angesichts der gerade begonnenen Studentenproteste, der wohl radikalsten seit 1976, will sie auch beweisen, dass man sich nicht mehr alle Ungerechtigkeiten gefallen lassen könne. Längst vertraue die Mehrheit der südafrikanischen Studenten den nationalen Bildungsbehörden nicht mehr – weder dem Ministerium für Hochschulbildung unter Blade Nzimande noch dem Nationalen Finanzhilfeprogramm für Studenten (NSFAS) und schon gar nicht den akademischen Räten der 28 Universitäten des Landes. Warum das so ist, will uns Chris, wie ihre Freunde sie nennen, gerade erklären, als plötzlich schwerbewaffnete Polizei vor unserem klapprigen Honda auftaucht und uns zum Halten zwingt. »Hier ist alles dicht, fahren Sie die Roeland Street hinunter«, faucht der Offizier durch Chris‘ hinuntergekurbeltes Fenster. Im gleichen Moment hören wir dumpfe Geräusche vom Campus der Universität, hinter den Staketenzäunen sehen wir hunderte Studenten, die offensichtlich mit Tränengas beschossen werden. »Oh, Mann«, meint Chris beim Wenden, »dass es so früh gewalttätig wird, hätte ich nun wirklich nicht gedacht.« Wir beschließen, an der nächsten Kreuzung auszusteigen und uns am Montag noch einmal mit ihr zu treffen. Bis dahin, so meint Chris, können wir uns schon einmal über die Lage der Studenten informieren – und übergibt uns eine Dokumentenmappe. »Es ist eine schöne Stadt, auch wenn es uns allen gerade ein bisschen in den Augen brennt«, meint sie sarkastisch und braust davon.
Wir schlendern an sirenenheulenden Polizeiautos vorbei in den sonnigen, so unschuldig blauen Morgen Kapstadts hinein. »Bildung ist die mächtigste Waffe, die wir benutzen können, wenn wir die Welt verändern wollen.« So hatte es Nelson Mandela während seiner langen Kerkerhaft unter dem Apartheidregime formuliert. Das Nationale Finanzhilfeprogramm für Studenten (NSFAS – dem hiesigen BAföG ähnlich) hat sich dieses Mottos angenommen. Seit sich im Jahre 1994 die Republik Südafrika die von allen progressiven Kräften so ersehnte demokratische und zutiefst egalitäre Verfassung gegeben hatte, konnte viel für die soziale Besserstellung der schwarzen und farbigen Bevölkerungsteile erreicht werden. Aber nicht in allen politischen Bereichen der Regenbogennation wurde umgesetzt, was Mandela, der ungebrochen verehrte Vater der nationalen Aussöhnung, bei seinen Nachfolgern in deren parlamentarischem Selbstverständnis verinnerlicht sehen wollte. Und so heißt es dann unter Paragraf 29 zur Bildungsgleichheit: »Jedermann hat das Recht auf Allgemeinbildung, auf Erwachsenenbildung und auf weiterführende Bildung, welche der Staat, durch angemessene Maßnahmen, fortschreitend erreichbarer und zugänglicher gestalten muss.« Während die Regierung des ANC in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten versuchte, durch das bereits erwähnte Finanzhilfeprogramm vor allem schwarzen Schülern aus armen Familien den Zugang zu den privaten und staatlichen Hochschulen des Landes zu ermöglichen, gerieten die Universitäten selbst unter finanziellen Druck: Denn nachdem bis 2005 eine der Verfassung entsprechende Alimentierung von bedürftigen Studenten gerade noch einer Nullrechnung im Bildungsetat gleichkam, konnten die Ressourcen der staatlichen Programmfinanzierung die entstandenen Bedürfnislagen der in den letzten zehn Jahren angestiegenen Zahl von Studenten aus armen Haushalten nicht mehr decken. Seitdem werden die obligatorischen Studiengebühren Jahr für Jahr angehoben. Auch 2016 sei eine Erhöhung der monatlich umgerechnet 225 Euro kostenden Einschreibegebühren an öffentlichen Unis um sechs Prozent fällig, so hatte es Bildungsminister Blade Nzimande gerade verkündet und sich dafür nun den landesweiten Zorn der Studierenden eingehandelt. Denn für die mittellose oder am unteren Rand des Durchschnittseinkommens befindliche Mehrheit der studentischen Familien würde dies bedeuten, immer drastischere Einschnitte im Alltagsleben und in ihrer sozialen Gesamtsituation hinzunehmen.
Das offizielle Jahresdurchschnittseinkommen der berufstätigen Bevölkerung beläuft sich auf etwa 120.000 Rand (ca. 6600 Euro), das Monatseinkommen der unteren Mittelklasse auf rund 6000 Rand (ca. 366 Euro), und eine Putzfrau in privaten Diensten erhält ungefähr 500 Rand (33 Euro) monatlich. Einen Universitätsbesuch könnten sich Kinder der unteren Einkommensschichten ohne staatliches Eingreifen überhaupt nicht leisten, geschweige denn Kinder von Arbeitslosen. In ihrem Bericht zur Lage der schwarzen studentischen Mehrheit schätzt Chris ein, dass über 90 Prozent dieser sozialen Gruppen in der einen oder anderen Form mit staatlichen Bildungskrediten unterstützt werden. Doch haben die erfolgreichen Söhne und Töchter des sozialen Aufschwunges, diejenigen also, die als schwarze Mittelschicht heute Anwälte, Ärzte oder Unternehmer sind, die heutige Generation der Enkel Mandelas im Stich gelassen. Chris und ihre Gruppe haben mithilfe universitärer Verwaltungsleitungen im ganzen Land ermittelt, dass ungefähr 420.000 heute erfolgreich tätige Akademiker ihre Schulden an das nationale Kreditvergabeprogramm der NSFAS nicht zurückgezahlt haben. Sie entziehen sich ihrer Verantwortung gegenüber der nachfolgenden Studentengeneration und beschmutzen das Erbe Mandelas, der gerade auch die soziale Solidarität nicht nur zwischen den Ethnien, sondern auch innerhalb der schwarzen Bevölkerungsmehrheit beschworen hatte. »Wir sind die erzürnten Enkel Mandelas, die sich für euren vorgeblichen Erfolg schämen. Ihr habt euren Wohlstand auf dem Elend der Nachfolgenden errichtet«, so heißt es auf einem Flyer, den Chris selber entworfen hat. Ein Studienplatz, egal ob in Stellenbosch, in Johannesburg oder Kapstadt, kostet Studierende an öffentlichen Unis monatlich ungefähr 700 Euro: Davon sind rund 400 Euro für das Lehrprogramm und die Einschreibung zu entrichten, 300 Euro jedoch müssen allein für Unterbringung und Essen aufgebracht werden. Viele der Studenten legen einen Teil der vom Elterneinkommen und den eigenen akademischen Leistungen abhängigen Kredite jedoch für die Versorgung ihrer sich aufopfernden Familien beiseite. Eine Protestnote der Studierenden lautet neben der zentralen Forderung »Fees must fall« (»Die Gebühren müssen fallen«) dann auch schlicht: »Wir hungern«. Und in der Tat: Am ehesten sparen die Studenten am Essen. Daraus hat sich ein regelrechtes Hungerproblem entwickelt. Um das fehlende Geld zu kompensieren, suchen sich viele Studentinnen einen sogenannten Sugardaddy, einen zahlenden Liebhaber, während männliche Studenten zutiefst prekären Tätigkeiten wie dem Müllsammeln oder dem Verkauf von »Dagga«, von Drogen, nachgehen. Dabei wiederum geraten sie in die Erwerbsfelder der vielen jungen Flüchtlinge aus Mosambik, aus Simbabwe oder Sambia. Eine extrem gestiegene Kriminalitätsrate in den Townships ist die Konsequenz des sozialen Notstandes.
All das haben wir dem Material entnommen, als schließlich am Sonntagabend im Radio bekanntgegeben wird: Die Regierung nimmt die sechsprozentige Erhöhung der Studiengebühren für 2016 zurück. Und am Montag, als die protestierenden Studenten wieder in ihren Hörsälen sitzen und wir dann schließlich doch in das kleine Büro von Chris gelangen, feiert man hier, zwischen Pappkartons und veralteten Laptops, den gerade gewonnenen Sieg. »Wir haben als Studenten zum ersten Mal Macht gezeigt«, meint Chris und schaut aus dem Fenster. »Und die Regierung, sie ist eingeknickt. Aber nur mit Straßenprotesten werden wir nicht gewinnen. Wir müssen uns mehr einbringen, im Afrikanischen Studentenkongress (ASC), im Jugendverband des ANC und an unseren eigenen Universitäten. Wir müssen denen zeigen, dass wir zu Mandelas Erbe stehen. Und gegen den Egoismus der Arrivierten.«