Der haushohe Sieg der Nein-Stimmen, der Matteo Renzis Walkürenritt in eine Republik der neuen Art am 4. Dezember gestoppt hat, ist facettenreich und hat viele Protagonisten. 60 Prozent sagten zu dem Paket der Verfassungsänderungen Nein, 40 Prozent Ja – bei hoher Wahlbeteiligung quer durchs ganze Land (s. auch Ossietzky 24/2016). Das ist vor allem ein Sieg der Realität über die Propaganda beziehungsweise die »Narration«, wie man heute sagt. Zweifellos hat eine unerwartet große Mehrheit der Italiener ihren Unmut nicht nur über Inhalt und Form der von Renzi versuchten Verschrottung der partizipativen Demokratie geäußert, sondern vor allem über die bisherige Politik seiner seit 1000 Tagen amtierenden Regierung, die nicht eines der großen Probleme des Landes strategisch angepackt, sondern die Misere weiter verschärft hat. Renzis davon ungetrübten Erfolgspropaganda stehen die Erfahrungen zu vieler Menschen entgegen, die seit Jahren arbeitslos sind und über keine Mittel mehr verfügen, die nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie die Zuzahlungen nicht mehr leisten können, die ohne Strom leben oder ihre Wohnung verlieren et cetera. Die alarmierenden Zahlen des Statistischen Amtes für das Jahr 2015 weisen inzwischen für Italien 17,5 Millionen Arme aus – 28,7 Prozent der Bevölkerung. Ärmer sind in Europa nur die Griechen und die Rumänen. Und es gibt noch immer keine allgemeine Arbeitslosenversicherung.
Erste Analysen der Abstimmung zeigen denn auch, dass die sozial Schwächeren, die Jugend und vor allem der Süden häufiger mit No votierten als die Mittelschicht und die Älteren im Norden. In nur drei von zwanzig Regionen (Toskana, Emilia und Südtirol) überwiegen die Si-Stimmen. Der monatelangen Propagandaoffensive Renzis traten vor allem die Comitati per la Costituzione (Verfassungskomitees) entgegen, deren 750 autonome Organisationen sich im ganzen Land aus verschiedensten Vereinigungen, vom Verband der Partisanen bis zu Juristen und Gewerkschaftern, als Rückgrat der Zivilgesellschaft zusammenfanden wie schon bei ähnlichen Anlässen zuvor. Sie haben viele Bürger überhaupt erst wieder mit ihren Verfassungsrechten konfrontiert und zur Stimmabgabe motiviert. Aber von diesen Komitees war und ist in der medialen Öffentlichkeit keine Rede, denn sie haben keine politischen Vertreter. Dennoch sind sie ein Indikator für die beachtlichen basisdemokratischen Erwartungen und Ansprüche der italienischen Gesellschaft – allein die Demonstrationen der sozialen No-Bewegungen brachten am 22. Oktober und am 27. November zusammen fast 100.000 Menschen in Rom auf die Straße. Und für 2017 stehen weitere schon bewilligte Volksabstimmungen an, unter anderem über das von Renzi deformierte Arbeitsrecht (Jobs Act), seine Renten- und Schulreform. Da besteht großer Handlungsbedarf.
Das aktuelle Referendum hat auch den tiefen Riss, der die einstige Linke (PCI) nach 1989 gespalten und handlungsunfähig gemacht hat, erneut offenbart. Mit Ja stimmten all jene, die keine Alternative zum deregulierenden Neoliberalismus für möglich beziehungsweise Renzis Partito Democratico (PD) für das kleinere Übel halten. Nein sagte die vielgestaltige Gruppe jener, die eine andere Politik nicht nur für möglich, sondern für unverzichtbar halten, wenn die Gesellschaft nach über zwanzigjähriger Deindustrialisierung und Verarmung nicht auseinanderbrechen soll. Nein sagten auch diejenigen die sich dafür einsetzen, dass nicht nur Text und Geist der antifaschistischen Verfassung intakt bleiben, sondern dass deren Garantien für Arbeit und soziale Wohlfahrt, für Schutz der Umwelt, Ächtung des Krieges und vieles andere mehr endlich verwirklicht werden. Ob sich daraus noch eine tatkräftige linke Alternative entwickeln kann, bleibt abzuwarten.
In der Medien-Öffentlichkeit beansprucht nun neben Grillos Fünf-Sterne-Bewegung die oppositionelle Rechte ihre Vaterschaft am Nein-Sieg gegen Renzi und setzt auf rasche Neuwahl. Der steht jedoch vor allem das nicht praktikable, teilweise verfassungswidrige Wahlgesetz »Italicum« entgegen, das Renzi 2015 hatte verabschieden lassen (wiederum mit Misstrauensvotum!) und das erst im Juli 2016 in Kraft trat, dessen Revision er aber noch im Wahlkampf seinen parteiinternen Gegnern in Aussicht stellte. Es gilt nur für eine Kammer, denn der Senat sollte ja nicht mehr direkt gewählt werden – nach Renzis nun gescheitertem Plan. Das Verfassungsgericht wird jedoch erst am 24. Januar 2017 darüber entscheiden. Staatspräsident Mattarella hat umgehend eine Übergangsregierung mit neuem Ministerpräsidenten eingesetzt, eine Fotokopie der Renzi-Regierung. Die meisten hoffen auf einen baldigen Wahltermin. Auch Renzi steht schon bereit, dabei wieder mit einem hohen Einsatz zu spielen: jenen 40 Prozent, die vor wenigen Tagen Ja gesagt haben, zu ihm, wie er – von Selbstzweifeln unangefochten – annimmt.
Ob und wie weit seine Partei ihm dabei folgen wird und ob der PD nach einer wohl nicht mehr lange aufschiebbaren Klärung der Front zwischen rechts und links intakt bleibt, ist völlig offen. Das von Walter Veltroni 2008 mit der PD-Gründung initiierte Projekt zur Schaffung einer de-ideologisierten »Partei der Mitte«, von Renzi gar zur »Partei der Nation« hochstilisiert, erweist sich im Grunde als gescheitert, denn sie hat von mitte-rechts kaum neue Wähler angezogen und wäre wohl nicht überlebensfähig, falls ihre Linke gehen sollte. Es sei denn, der PD würde definitiv zu jenem peronistischen »Partito di Renzi« (PDR), den der Politologe Ilvo Diamanti bereits ausgemacht hat.
Dass Renzi – ungeachtet seiner eigentlich bis zum Ende der Legislaturperiode 2018 komfortablen Mehrheit – sein Regierungsamt nun erst einmal hingeworfen hat, ist vor allem seiner Hybris zuzuschreiben, mit der er von Beginn an diesen Volksentscheid populistisch überhöht und an seine Person gebunden hat. Darin mögen manche eine Parallele zu David Cameron und seinem Brexit sehen. Doch Renzi ist ein Gewohnheitsspieler, der seit Beginn seiner Politkarriere in Florenz immer wieder hoch gepokert hat und sich auch diesmal nur kurz vom Spieltisch zurückzieht – entgegen aller vorherigen Ankündigungen seines Rückzugs aus der Politik. »Zu kühn oder zu dumm?« fragte die FAZ in ihrem ersten Kommentar am 5. Dezember, der allerdings die Natur dieses Wahlergebnisses überheblich als »populistisch« verkennt. In der Tat mag der staatsmännische Anstrich des Machers Renzi hinter der Tatsache verblassen, dass er selbst – trotz aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel – die reale Situation in seinem Lande so offensichtlich falsch eingeschätzt hat. (Immerhin war schon Berlusconi vor zehn Jahren mit einem ähnlichen Vorstoß zur Verfassungsänderung an einem Referendum gescheitert!)
Doch diese personalistische Sichtweise auch auf die anderen Protagonisten rechts wie links verstellt den Blick auf die anstehenden Probleme und den engen politischen Spielraum, den Politiker des Landes in der EU noch haben. Immerhin hat Renzi auf Aufforderung des Staatspräsidenten noch kurz vor seinem offiziellen Rücktritt am 7. Dezember den hoch umstrittenen Haushalt für 2017 per Misstrauensvotum, das heißt ohne Diskussion und bereits vorgeschlagene Änderungen, durch den Senat gebracht, unter großem Protest der Opposition. Denn schon sind Stimmen aus Deutschland zu hören, die »ein Hilfsprogramm vom ESM«, dem europäischen »Rettungsschirm«, in Aussicht stellen und auch den Internationalen Währungsfonds (IWF) dabei einbeziehen möchten (so der Merkel-Berater Volker Wieland in einem Interview mit dem Handelsblatt, laut il manifesto, 7.12.), andernfalls könne »Italien wohl nicht mehr lange in der Währungsunion verbleiben«.
Ist das als Drohung zu verstehen, man werde nun aus Brüssel die soeben gerettete Verfassungssouveränität Italiens finanzpolitisch unterhöhlen? Aber Rom sei ja nicht Athen, hieß es noch vor einem Jahr – das bleibt zu hoffen.