Rechtzeitig zum 100. Jahrestag der Russischen Revolutionen gab es in Russland wieder eine Diskussion um das Schicksal Lenins, genauer seines einbalsamierten Leichnams im Mausoleum am Roten Platz. Und wie so oft entschied ein Machtwort des Präsidenten, dass alles beim Alten bleiben solle. Dabei ist die Stimmung im Lande doch so, dass man dem Revolutionsführer ein »christliches« Begräbnis wünscht. Dem ist nur zuzustimmen, die 1924 unter Stalin erfolgte »Vergottung« Lenins und seine Zurschaustellung mochte im noch archaisch geprägten (Sowjet-)Russland seine Berechtigung gehabt haben, widersprach aber zweifellos nicht nur den Wünschen der Krupskaja, sondern auch Lenins selbst und ist für uns Heutige nicht akzeptabel. Nur dumm, dass es hier nicht um irgendwelche Bestattungsriten geht, sondern um politische Symbole. Lenin der Erde oder dem Feuer zu übergeben ist das eine, seine Ideen, sein politisches Wirken, sein Vermächtnis, die Oktoberrevolution und die Sowjetunion vergessen zu machen das andere, das politisch Problematische.
Der ungeliebte Revolutionsführer
Ja, 2017 waren die Russischen Revolutionen, vor allem die Oktoberrevolution, in aller Munde. Ob Freund, ob Feind, an der historischen Zäsur 1917 mochte beziehungsweise konnte keiner vorbeigehen. Aber um die historisch entscheidende Figur dieser Revolution, egal, ob als bolschewistischer Putsch denunziert oder als große soziale Umwälzung anerkannt oder gar gefeiert, machten die meisten einen großen Bogen. Wenn schon, dann wurde an den verbissenen Zarenfeind, den gewieften Taktiker, den möglichen deutschen »Geheimagenten« erinnert, weniger an den Theoretiker, Strategen, den Realpolitiker. In Russland hat Lenin besonders schlechte Karten, denn ihm wird die Schuld daran zugeschoben, dass die russische Armee nicht zu den Siegern des Ersten Weltkrieges gehöre und dass seine Zersetzungsarbeit und seine Zuneigung zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen eine »Atombombe« unter das Fundament des russischen Imperiums gelegt und gezündet habe, wie der Präsident selbst diese Denkweise vorgab.
Viele haben nach dem Zusammenbruch von Realsozialismus und Sowjetunion mit dem einstigen »Träumer im Kreml« und Führer des ersten Arbeiter- und Bauern-Staates ihre Probleme. Einst war er für Linke fast aller Parteiungen der große Revolutionär, lange beriefen sich all jene, die den Realsozialismus reformieren wollten, auf die erste reale Reform dieses System, die Neue Ökonomische Politik, mit der Markt, Geld, Warenproduktion für den Sozialismus nutzbar gemacht werden sollten. Daran hat sich viel geändert. Bestenfalls bescheinigt man Lenin, dass er die Kunst des Aufstandes beherrscht habe, nicht aber die Kunst, ein sozialistisches Staats- und Gesellschaftssystem ins Leben zu bringen.
Die letzten wahren Fans des russischen Revolutionärs sitzen in den Washingtoner Büros der neokonservativen Einpeitscher im Schatten Trumps. Die Steve Bannons dieser Welt verkünden, dass sie die wahren »Leninisten« seien, weil sie von ihm gelernt hätten, wie man einen Staat von Grund auf zerstören müsse, um etwas Neues aufzubauen.
Lenin geriet aus dem Blickfeld
Ein kurzer Blick auf Diskussionen nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus zeigt, in welchen Fragen Lenin heute die Zustimmung nicht weniger Linker verloren hat. Diese Kehrtwende ist der schweren Last und tiefen Scham geschuldet, die Linke bei der schonungslosen Abrechnung mit dem Realsozialismus erfahren mussten. Im Namen des Sozialismus hat es unverhältnismäßige Härten, Repressionen und Verbrechen gegeben. Unzulänglichkeiten, zerstörte Illusionen, Utopieverluste gehen einher mit Millionen Toten als Ergebnis wirtschaftlicher Fehlentscheidungen, die zu Hungersnöten führten, vor allem aber durch pauschale Massenverfolgungen und -exekutionen zumeist jenseits aller politischer Rationalität und juristischer Legalität. Diese Hypothek konnte nach Chruschtschows »Geheimrede« auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 teilweise abgetragen werden. Inkonsequenzen, das Verschweigen vieler Tabuthemen, die fehlende Auseinandersetzung parallel zum Ausbleiben einer wirtschaftlichen und demokratischen Erneuerung trugen in den letzten beiden Jahrzehnten der Existenz von Sowjetunion und Ostblock zur Suche nach Sündenböcken bei. Nach dem Zusammenbruch 1989/91 hat sich dies unter nun fest generell antikommunistischen Vorzeichen durchgesetzt.
Aber es gilt auch: Unter dem Eindruck dieser Erfahrungen und einer zunehmend wohlwollenderen Sicht auf die sozialen und politischen Errungenschaften des sozialdemokratischen Entwicklungsweges in West- und Nordeuropas haben sich die Vorstellungen von Sozialismus, sozialer Demokratie oder postkapitalistischer Gesellschaft gewandelt. Diese Entwicklungen suggerieren, dass es einen anderen Weg zum Wohlstand für alle und zu umfassender Demokratie geben könnte als den revolutionären und gewaltsamen »Umweg« im Geiste Lenins. Bei diesem Blick geht allerdings die Frage nach den Rahmenbedingungen für einen [Geben Sie ein Zitat aus dem Dokument oder die Zusammenfassung eines interessanten Punkts ein. Sie können das Textfeld an einer beliebigen Stelle im Dokument positionieren. Verwenden Sie die Registerkarte ›Zeichentools‹, wenn Sie das Format des Textfelds ›Textzitat‹ ändern möchten.] solchen Wandel des Kapitalismus seit dem New Deal, dem schwedischen oder rheinischen Modell verloren. Denn dieser Wandel und die Anpassung vollzogen sich in Zeiten einer tiefen Krise, die zu einem erneuten Weltkrieg geführt hatte. Sie vollzogen sich vor allem unter dem Eindruck eines prosperierenden, zwar diktatorischen, dennoch wirtschaftlich und sozialpolitisch erfolgreichen Realsozialismus bis in die 1970er Jahre und starker Gegenmächte in den kapitalistischen Metropolen selbst. Die Gegenmächte waren die auf Moskau fixierten Kommunisten ebenso wie die durch diese Konkurrenz angestachelten Sozialdemokraten und kämpferischen Gewerkschaften. Mit der Krise des Realsozialismus unter den Vorzeichen der Technologierevolution seit den 1960er Jahren und dem Zusammenbruch dieser Seite der Systemauseinandersetzung triumphierte eine andere, »effektive«, individualisierende Form des Kapitalismus, seine neoliberale Spielart.
Ein dialektisch verstandener Lenin ist notwendig – heute erst recht
Unter diesen Vorzeichen erscheint Lenin als gestrig, weil er noch an die Revolution glaubte, an die Notwendigkeit, die Macht zu erobern und zu behaupten, und sich und die neue Ordnung beschädigte und beschmutzte. Lenin hat keinen Augenblick gezögert, die Unzulänglichkeiten der russischen Revolution einzugestehen – aber mit dem Blick auf eine noch von den Russen und der internationalen Arbeiterklasse zu gestaltende Zukunft. Die russischen Revolutionäre setzten darauf, dass ihnen kurzfristig die Arbeiterklasse im Westen, gerade in Deutschland, folgen würde und sie in dieser neuen Konstellation in die zweite Reihe zurücktreten könnten, um den sozialistischen Aufbau in einem Staat der »halbasiatischen Kulturlosigkeit«, wie es Lenin nannte, in Angriff zu nehmen. Wir wissen, dass der Westen versagte und den Russen das Privileg und die Last blieben, die ersten auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft zu sein.
Ein selbstkritischer Blick auf heutige Diskussionen zeigt, dass dies sehr aktuelle Fragen sind. Für die Revolutionen der Vergangenheit, die Spontaneität der Massen können sich viele heute begeistern, die Anarchie verlockt zu vielfältigen Sympathien. Das alles ist revolutionäre Romantik pur. Aber ebenso beliebt ist angesichts der realen Erfahrungen, der realen Kräfteverhältnisse heute die Überzeugung, dass allein mit Hilfe der Parlamente, mit Gesetzen und Verordnungen, mit dem ach so gut funktionierenden Staatsapparat eine sozialistische Transformation in die Wege geleitet werden könnte.
An Lenin stört Kritiker sein bedingungsloses Orientieren auf den radikalen Bruch mit der alten Ordnung, nicht zuletzt mit revolutionärer Gewalt. An Lenin heute anzuknüpfen kann nicht auf ein Wiederholen seiner Politik setzen, sondern auf die dialektische Aneignung seiner theoretischen Einsichten. Die Aneignung zwingt zu einem kritischen Blick auf konkrete Kräfteverhältnisse, auf Bündnispartner, auf notwendige Kompromisse, die zähe Arbeit zu Schulung, Motivation und Organisation derjenigen, die den Kapitalismus nicht als das letzte Wort der Geschichte akzeptieren wollen.
Von Stefan Bollinger erschien kürzlich in der Reihe »Basiswissen« des PapyRossa-Verlags: »Lenin – Theoretiker, Stratege, marxistischer Realpolitiker«, 148 Seiten, 9,90 €. Leseempfehlung: »Goodbye Lenin?« von Susanna Böhme-Kuby in Ossietzky 15/2017.