Es gab nur wenige Personen, deren Name mit der Rechtsordnung der DDR so eng verbunden war, wie Friedrich Karl Kaul. Über ihn ist viel geschrieben und gesprochen worden. Manche Legende hat sich auch gebildet. Der aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Jurist hatte von 1924 bis 1929 Rechtswissenschaft in Heidelberg und Berlin studiert und war 1931 dort promoviert worden. Bereits 1933 entließen ihn die Nazis aus dem Referendariatsdienst auf Grund der rassistischen Gesetzgebung. Kaul galt im Sinne dieser Interpretation als Halbjude. So musste er sich als Versicherungsvertreter und Rechtskonsulent durchschlagen. 1935 wurde er durch die Gestapo verhaftet und im Folgejahr in das Konzentrationslager Lichtenburg verbracht und in »Schutzhaft« genommen. Ein Jahr später verlegte man ihn nach Dachau. Dort wurde er im gleichen Jahr unter der Bedingung entlassen, nach Übersee zu gehen und das Reichsgebiet nicht wieder zu betreten. Das einzige Land, das ihm sofort die Einreise gewährte, war Kolumbien in Südamerika. Die Schiffsreise nach dorthin wurde auf Bitten seiner Eltern von der jüdischen Gemeinde bezahlt. Dort blieb er bis 1940 und schlug sich als Bauarbeiter, Kellner und Büroangestellter durch. Dann führte ihn sein Weg weiter nach Panama, Nikaragua und 1941 nach Honduras. Ein Jahr später wurde er als »enemy alien« (»feindlicher Ausländer«) im Camp Kennedy in Texas interniert. Einige Zeit später verlegte man ihn nach Algiers in Louisiana. Von dort kehrte er erst im September 1945 zurück und wurde dann nochmals von den Amerikanern im Gefängnis Hohenasperg in Württemberg festgehalten, bis er im Mai 1946 in Berlin wieder eintraf.
Während der Zeit in Algiers war ihm eine beschränkte Aufenthaltsgenehmigung durch die Amerikaner angeboten worden, wenn er bereit wäre, Arbeit anzunehmen. Das lehnte er ab, denn Kaul wollte nach Hause. Dies obwohl seine Eltern, die noch rechtzeitig vor den Nazis hatten flüchten können, unterdessen die amerikanische Staatsbürgerschaft besaßen und in New York lebten. Sein weiterer beruflicher Werdegang nach Rückkehr auf deutsches Territorium ist weitgehend bekannt. Er wurde zunächst Justitiar des Berliner Rundfunks, und einige Zeit später erhielt er die Zulassung als Rechtsanwalt noch vor Gründung der beiden deutschen Staaten. Bereits ab 1946 beantwortete er regelmäßig im Rundfunk Rechtsfragen des Alltags, ab 1972 dann auch im Fernsehen der DDR. Sein Mitwirken als Vertreter der KPD im Verbotsprozess von 1956 vor dem Bundesverfassungsgericht und ab dem Auschwitz-Prozess 1963 in zahlreichen Verfahren gegen nazistische Gewaltverbrecher als Vertreter der Nebenklage ist dauerhaft in die deutsche Rechtsgeschichte eingegangen.
Als er im Mai 1946 in die SED eintrat, begegnete man ihm dort zunächst mit Vorsicht und auch einem gewissen Misstrauen. Das war leider in jener Zeit gegenüber Westremigranten nicht unüblich. Diese Skepsis hielt sich noch bis weit in die 1950er Jahre. In einem vor wenigen Jahren erschienenen Buch behauptete dessen Autor sogar, er habe wiederholt in dem Verdacht gestanden, »Agent des amerikanischen Geheimdienstes zu sein«. Allein für die Existenz dieser Behauptung findet sich nicht der geringste Beweis. Wer ihn kannte, wusste auch, wie abgrundtief er die Amerikaner »wegen ihrer Großfressigkeit« hasste.
Jetzt sind Unterlagen des Nationalarchivs der USA veröffentlicht worden, die aus der Zeit von Kauls Aufenthalt in Algiers stammen. Kaul war bereits von Kolumbien nach Nikaragua mit einem Bekannten, Ernst Blumenthal, »getippelt«. So fanden sich beide dann letztlich auch in dem Lager in Louisiana wieder. Von dort wandten sie sich in einem Brief vom 12. Oktober 1944 an Henry Morgenthau jun., der als US-Finanzminister von Washington vorübergehend nach New Orleans gereist war. Wegen der Nähe zu Algiers machten sie ihn auf ein Telegramm aufmerksam, das sie an den US-Präsidenten Roosevelt über Morgenthau ins Weiße Haus geschickt hatten. Ihn baten sie als die letzten einer ehemals großen Gruppe jüdischer Internierter um seine Unterstützung, machten auf ihre Lage aufmerksam und die Odyssee, die sie bis dahin hinter sich gebracht hatten. Gleichzeitig verwiesen beide auf ihre Überzeugung von der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Nazismus. Seit längerem versuchten sie zu erreichen, aus dem Internierungslager freigelassen zu werden, wurden aber von der zuständigen Behörde nur hingehalten. Ohne dass sie das ausdrücklich schrieben, hofften Blumenthal und Kaul wohl darauf, dass Morgenthau sie bei seinem Aufenthalt unweit des Lagers aufsuchen würde. Das kam aber Morgenthau nicht in den Sinn. Stattdessen landete das Anliegen bei einem J. W. Pehle, dessen konkrete Behördenzugehörigkeit leider nicht ersichtlich ist. Dieser wandte sich an den Kriegsflüchtlingsausschuss beim Exekutivbüro des Präsidenten. Von dort wurde Pehle durch einen Lawrence S. Lesser am 17. Oktober 1944 mitgeteilt, dass ihm der Chef einer Kontrolleinheit des Justizministeriums, Edward Ennis, gesagt habe, dass man ziemlich sichere Beweise dafür hätte, »dass Kaul ein Naziagent [sei] und dass seine Freilassung abgelehnt wird«.
Leider ist den Unterlagen nicht zu entnehmen, worauf jener Ennis seine ungeheuerliche Behauptung stützte. Stattdessen teilte Pehle Blumenthal und Kaul unter Bezugnahme auf deren Brief vom 12. Oktober 1944 lapidar mit, dass ihre Angelegenheit »nicht in der Zuständigkeit des Flüchtlingsausschusses« liege. Beide Fälle würden im Justizministerium demnächst entschieden werden. An dieser Stelle endet das vorhandene Archivmaterial. Die ungeheuerliche Behauptung über einen auch damals schon erklärten Antifaschisten, der längere Zeit in zwei Konzentrationslagern der Nazis hatte zubringen müssen und gezwungen worden war, Deutschland zu verlassen, entbehrte jeglicher Grundlage. Sie wurde von den Amerikanern offenbar auch nie wieder thematisiert, weder als Kaul nach Deutschland zurückkehrte noch während seiner Zeit auf dem Hohenasperg von September 1945 bis April 1946. Stattdessen boten ihm die Amerikaner an, Intendant des Stuttgarter Rundfunks zu werden, was er nachdrücklich ablehnte, da er in die SBZ wollte.
Fest steht allerdings, dass man ihn Jahre später während des in Essen laufenden Prozesses gegen die ehemaligen SS-Angehörigen Bischoff, Sander und Busta, der von 1967 bis 1970 stattfand, nicht zur Teilnahme an der Zeugeneinvernahme von Hitlers Raketenmann Wernher von Braun in die USA einreisen ließ, was jetzt auf seine kommunistische Gesinnung gestützt wurde. Von Braun, der sich nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus den Amerikanern angedient hatte, war wegen seiner diesen gegenüber bestehenden Verpflichtungen angeblich nicht abkömmlich, um nach Essen als Zeuge zu reisen. So begab sich denn das Gericht in die USA.
Die starke Neigung der US-Amerikaner, die Dinge immer gerade so zu drehen, wie man sie brauchte, ist unverkennbar, wofür der hier geschilderte Fall lediglich ein kleines Beispiel ist. Nur mit der Wahrheit nahm man es schon damals nicht so genau.