»Wir leben in der besten aller Welten«, erzählen die Regierenden – und glauben das sogar; sie selbst leben ja überwiegend auch wie Maden im Speck. Tatsächlich: Das Sein bestimmt das Bewusstsein – bei den Herrschenden wie bei denen, denen nur Ungerechtigkeiten widerfahren und die auf diese Art und Weise veralbert werden. Brecht, etwas frei übersetzt: Belehrt von ungeduldigen Politikerinnen stehen die Armen und hören, dass die Welt die beste der Welten ist.
»Auch in diesem Monat sind die Nachrichten vom Arbeitsmarkt günstig: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung gehen weiter zurück, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nimmt erneut zu, und die Arbeitskräftenachfrage der Unternehmen bewegt sich auf einem sehr hohen Niveau«, sagte der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, anlässlich der monatlichen Pressekonferenz am 29. November in Nürnberg. 2.186.000 Personen waren offiziell erwerbslos, hinzu kommen gut eine Millionen Menschen in, wie es verschämt heißt, »entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit«. Ältere Erwerbslose über 58 Jahre müssen hinzugerechnet werden. Ebenso über 75.000, die immer noch in Ein-Euro-Jobs hängen, 160.000 sind es, die vom Arbeitsamt zu »Bewerbungstraining« und anderem Quatsch genötigt werden, und fast 200.000, die in vom Arbeitsamt finanzierten »Eingliederungsmaßnahmen« sind, also gratis Probearbeit abliefern müssen. Aber all diese Personen sind tatsächlich erwerbslos und beziehen Arbeitslosengeld: 3,14 Millionen Menschen. Da von Vollbeschäftigung zu reden, ist schon ein Hohn.
Ein weiteres »Phänomen«, das die bürgerlichen Ökonomen und Politikerinnen nicht erklären können: Trotz offiziell sinkender Arbeitslosenzahlen und angeblich guter Konjunktur geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Sie, die Politiker und Ökonomen, vergessen nämlich gerne, dass Millionen Menschen in unserem Land für Niedriglohn arbeiten müssen, fünf Millionen sind »geringfügig beschäftigt« und oft in unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Die tatsächliche Unterbeschäftigung beläuft sich auf weit über acht Millionen Menschen. Das wird sichtbar, wenn man sich folgende Verhältnisse anschaut: Nur etwas mehr als 75 Prozent der 40 Millionen abhängig Beschäftigten sind sozialversichert, fast acht Millionen sind es nicht. Nur 24 Millionen Menschen arbeiten in Vollzeit. Etwas grob kann man auf die Erwerbsarbeit bezogen sagen, dass die Vollzeit überwiegend männlich und die Teilzeit überwiegend weiblich ist – mit entsprechenden Konsequenzen für das aktuelle Einkommen wie für die späteren Rentenansprüche. Gleichermaßen geht die Schere zwischen West und Ost auseinander: 95 Prozent der Reichen leben im Westen, 62 Prozent der Armen leben im Osten Deutschlands; 75 Prozent der Reichen sind Männer, 54 Prozent der Armen sind Frauen. Der Schuldneratlas, von »Creditreform« herausgegeben, zeigt, dass gut jeder zehnte Erwachsene seine Rechnungen dauerhaft nicht zahlen kann, während die reichsten Deutschen immer mehr Vermögen ansammeln. Die Überschuldung von Privatpersonen in Deutschland ist seit 2014 zum fünften Mal in Folge angestiegen und betrifft tendenziell ältere Personen, und sie ist überwiegend weiblich. Geringes Einkommen und rasant steigende Mieten führen zu Armut in einer Gesellschaft, in der der Reichtum immer ungleicher verteilt wird.
Die Regierenden schwafeln immer noch davon, dass es uns allen gut geht in diesem Land und führen einen angeblichen »Fachkräftemangel« dafür und für die Forderung nach Verlängerung der Arbeitszeit an: am besten wieder den 12-Stunden-Tag wie vor mehr als hundert Jahren und neuerdings auch wieder in Österreich und Heraufsetzung des Rentenalters auf 70 und mehr Jahre. Verantwortlich für einen partiellen Mangel an Fachkräften sind aber die Betriebe, die nicht ausgebildet haben, die nicht nach Tarif bezahlen, die keinen Betriebsrat zulassen, die nur befristet beschäftigen und – alles in allem – eben keine gute Arbeit bieten! Wenn Arbeitgeber über Fachkräftemangel klagen, ist das oft bewusste Schwarzmalerei mit dem Ziel, Arbeitskräfte aus anderen Ländern anzuwerben, um die Reservearmee hoch zu halten. Die Gewerkschaften haben Forderungen aufgestellt, um die verheerenden Folgen prekärer Beschäftigung – wie Erwerbsarmut, Spaltung der Belegschaften oder fehlenden sozialen Schutz – zu überwinden: Leiharbeit muss die Ausnahme bleiben, statt punktueller Veränderungen bedarf es eines neuen Normalarbeitsverhältnisses, Minijobs mit ihrem geringen Sozialschutz müssen abgeschafft werden, alle Beschäftigten müssen in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen werden, und diese müssen armutsfest gemacht werden.
Das Programm ist gut – nun müssen den guten Argumenten noch Beine gemacht werden!