»Was hier abgeht in diesem Staat – wir sind ja nur der Menschenmüll.« Harte Worte fanden Betroffene der Heimerziehung und Referenten auf der Tagung »Heimkindheiten« an der Evangelischen Akademie Tutzing Ende November. Betroffene der Missstände westdeutscher Heimerziehung der Nachkriegsjahrzehnte, Vertreter aus Politik, Wohlfahrts- und Sozialverbänden sowie Lehrende an Universitäten waren zusammengekommen, um die Arbeit des Fonds Heimerziehung West zu bilanzieren. In den Jahren 2006/07 hatten Betroffene die Missstände in westdeutschen Heimen öffentlich gemacht und Petitionen beim Deutschen Bundestag eingereicht. Sie hatten Entschädigung und historische Aufarbeitung gefordert für das, was sie in ihrer Kinder- und Jugendzeit in Heimen der damaligen Bundesrepublik und der ehemaligen DDR erfahren mussten: Körperliche, seelische und sexuelle Gewalt, Zwangsarbeit, Vernachlässigung, Vorenthalt von Bildung, um einige der Missstände zu nennen. Die Petitionen bewirkten die Einrichtung des »Runden Tisches Heimerziehung«, als dessen Ergebnis der »Hilfsfonds Heimerziehung« als Freiwilligenfonds »West« und »Ost« entstanden, in den Bund, Länder sowie evangelische und katholische Kirche einzahlten. Seine Umsetzung fand der Fonds über Anlauf- und Beratungsstellen auf Landesebene, hier konnten Betroffene von 2012 bis 2014 Entschädigungszahlungen beantragen und Beratung erhalten. Ende 2018 stellt der Fonds Heimerziehung seine Arbeit ein.
Betroffene der Heimerziehung ziehen Bilanz
»Das reiche Deutschland war nicht in der Lage, die Opfer der Heimerziehung entsprechend zu entschädigen, ein Hilfsfonds ist kein Entschädigungsfonds«, ist das Fazit von Sonja Djurovic, Zeitzeugin der Heimerziehung, und sie weist auf Entschädigungspraktiken in den USA oder Irland hin. Der Vorwurf, dass es Politik, Kirchen und Wohlfahrtsträgern am Willen zur historischen Aufarbeitung gemangelt habe, kommt nicht nur von Betroffenenseite. Der Sozialpädagoge Manfred Kappeler benennt eine »extreme Machtasymmetrie« in der Zusammensetzung des Runden Tisches Heimerziehung, an dem drei Betroffene 17 »Spitzenfunktionären« aus Politik, Kirche und Wohlfahrtsinstitutionen gegenübersaßen. »Sie durften mit im Boot sitzen, aber ohne Ruder«, kommentiert die Situation Peter Blickle, Betroffener und Mitglied im Fachbeirat der Anlaufstelle Bayern. Alle Parteien außer Die Linke stimmten für die Einrichtung des Hilfsfonds anstatt eines gesetzlich garantierten Entschädigungsfonds. Heute bleibe einzig die Möglichkeit, über das Opferentschädigungsgesetz den erfahrenen Missbrauch in der Heimerziehung einzuklagen. Doch das Verfahren erfordere Durchhaltevermögen und bewirke oft eine Retraumatisierung, weil die Beweise von den Betroffenen erbracht werden müssen, berichten Personen, die den Gerichtsweg gegangen sind. Als der stellvertretende Referatsleiter für Jugendpolitik des Bayerischen Staatsministeriums ans Rednerpult geht, kommt der Zwischenruf aus dem Audi-torium: »Wir brauchen hier den Justizminister, nicht den Sozialsekretär!« und weiter: »Es sind Verbrechen passiert! Wir brauchen kein Mitleid, wir wollen die Täter vor Gericht.«
Ein Verdienst der Tagung war es, Betroffene und Vertreter aus Politik und Wissenschaft zusammenzuführen und dass jede/r zu Wort kam. Breiten Raum nahm die Präsentation der Forschungen ein, die vom Fonds in Auftrag gegeben worden waren. »Wir brauchen weniger Forschung, mehr direkte Hilfe an die Betroffenen«, war von Betroffenenseite zu hören. Eindrücklich gaben Betroffene Zeugnis über ihre Heimerfahrung, über Folgeschäden, über ihren Einsatz für Rehabilitation und Anerkennung der Missstände in Heimen. Klar äußerten sie ihre Frustration über politische Entscheidungen, die gesellschaftliche Stigmatisierung von »Heimkindern«, die bis heute anhalte. Als die Bayerische Staatsministerin Kerstin Schreyer das Schlusswort sprach und Urkunden an die Mitglieder des Runden Tisches Bayern und die Verantwortlichen der Anlauf- und Beratungsstelle überreichte, war von der brodelnden Stimmung nichts mehr zu spüren. Die Staatsministerin sprach vom »Rucksack«, den die Betroffenen mit sich trügen und den sie wenn möglich immer wieder ein Stück leichter machten. Die Tagung endete harmonisch. Die Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle München wird als Hilfs- und Beratungsangebot für Geschädigte der Heimerziehung 1949–75 weitergeführt werden.
Zeitzeugen berichten
»Die Sache holt einen einfach ein«, berichtet Detlev Z. Im Alter von drei Jahren kam er ins Pietistenheim Korntal, ab vier Jahren erfuhr er massive Vergewaltigungen, auch von Frauen im Nonnenkleid. Jahrzehnte später kamen Depressionen, sozialer Rückzug, Panikattacken und sogenannte Flashbacks. Er arbeitete als Krankenpfleger, hatte Zugang zu Medikamenten und versuchte den Suizid. Offen erzählen die Betroffenen von den schockierenden Missständen der damaligen Heimerziehungspraxis. Zwei Zeitzeugenberichte, auf Tonband gesprochen, werden für das Auditorium abgespielt. Die Zeitzeugen sitzen daneben. »Das schlimmste war nicht mal die harte Zwangsarbeit im Torfstich, sondern: Du hörst den ganzen Tag kein gutes Wort«, berichtet Joachim von Haxthausen. Katharina Nusser von der Anlauf- und Beratungsstelle Bayern moderiert die anschließende Diskussion: »Was hat Sie befähigt, das zu überstehen?«, fragt sie die Zeitzeugen. »Es gibt zwei Sorten von Menschen: Die einen kämpfen, die anderen geben auf. Ich gehöre zur Sorte Kämpfer«, lautet eine Antwort. Wovon die Betroffenen individuell und anschaulich konkret berichten, fassen die in Auftrag gegebenen Studien abstrakt zusammen: Die Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung unterscheidet Gewaltformen: psychische, sexualisierte, soziale, religiöse Gewalt, Isolationserfahrung, Vernachlässigung. Der Versuch, ein »individuelles Bewältigungspotential« in Zahlen zu messen, ergibt laut Studie, dass es nur knapp 19 Prozent der befragten Betroffenen gelingt, in ihrem heutigen Leben laut Selbsteinschätzung »zufrieden« oder »sehr zufrieden« zu sein. In die Studie flossen die Angaben 160 Betroffener ein – es sind diejenigen, die sich aktiv an die Anlauf- und Beratungsstellen wandten. Nicht berücksichtigt sind die Menschen, die Suizid begingen oder bei den Anlauf- und Beratungsstellen erst gar nicht vorsprachen.
Akteneinsicht und historische Aufarbeitung
»In welchen Heimen war ich eigentlich und wie lange?« fragten sich ehemalige Heimkinder. Als sie begannen nachzuforschen, verlief die Recherche oftmals ergebnislos: Die Akten waren geschreddert, oder die Auskunft wurde verweigert. Mit der Einrichtung des Fonds ging ein Verbot der Aktenvernichtung einher. Erstmals entstand ein gesellschaftliches Bewusstsein über die Notwendigkeit der historischen Aufarbeitung der damaligen Missstände in Heimen. Der Politikwissenschaftler Manfred Spieker stellt die »Aufarbeitung durch Erinnerungskultur« in Beziehung zum Konzept der Menschenwürde. Erinnerung diene der Bewahrung und dem Schutz der Menschenwürde als kollektives Gut. Ist die Würde eines Menschen verletzt, sei es die Verantwortung aller, auch der nicht direkt Betroffenen, sie wiederherzustellen. Liege die Verletzung in der Vergangenheit, komme der Erinnerung und Erinnerungskultur diese Bedeutung zu. Machtträger hätten dabei immer Einfluss auf die Struktur des Erinnerns. Wie zufällig weist Spieker auf die Begleitbroschüre des Fachtags »Der lange Schatten des Völkermords an Sinti und Roma« hin, der wenige Wochen zuvor in München stattfand und ebenfalls aus Mitteln des Fonds finanziert wurde. Als kleiner Fachtag vor der großen Tagung hatte er die besondere Situation von Sinti und Roma im Blick, die nach 1945 in Heimen untergebracht waren und deren Eltern und Verwandte direkte Betroffene der NS-Verfolgung waren. Missstände in Heimen der Nachkriegsjahrzehnte und die Folgen des NS-Genozids kommen hier zusammen (siehe Ossietzky 23/2018).
Auf den ersten Blick waren die Tagungsthemen in Tutzing ausgewogen, auf den zweiten waren fehlende Inhalte erkennbar. Eine Betroffene berichtet, sie habe eine Studie über Säuglingsheime beim Runden Tisch beantragt. »Säuglinge können nicht als Zeitzeugen erzählen, ich habe keine Erinnerung an meine Säuglingszeit. Darum die beantragte Studie, zu der es nie kam.« Die Tagung sollte den Abschluss des Fonds Heimerziehung bilden, die vielen verbliebenen Leerstellen zeigen, dass die Tagung für manche Themen erst den Anfang machte.
Maria Anna Willer ist Europäische Ethnologin M. A. und arbeitet freiberuflich. Zuletzt erschien von ihr die Publikation »Der Junge aus Auschwitz … eine Begegnung. Das Leben des Münchner Sinto Peter Höllenreiner nach 1945«.