»Sein Bestreben war es von Anfang an, die Universität Halle nach 1990 möglichst schnell in den Kreis der deutschen Universitäten zurückzuführen.« Diesen bemerkenswerten Satz enthält ein Nachruf der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg für ihren ehemaligen Rektor Günther Schilling, der im August 2018 im Alter von 87 Jahren verstorben war.
Schilling hatte in Jena Landwirtschaft und Chemie studiert und wurde dort 1961 Professor für Pflanzenernährung und Bodenkunde sowie Institutsdirektor. 1970 folgte er einem Ruf nach Halle. In den Mai 1990 fiel schließlich seine Wahl zum Rektor der Universität als Nachfolger des Chemikers Horst Zaschke. Dieses Amt bekleidete er bis 1993. Soweit die trockene Historie.
Eine an den Rektor der Universität Halle im September 2018 gerichtete Anfrage bezüglich dieser »Zurückführung« ist leider unbeantwortet geblieben. Es wäre ja durchaus interessant gewesen zu erfahren, wohin denn die gegenwärtige Universitätsleitung die alma mater halensis für die Vorwendezeit geopolitisch verortet haben möchte.
Man kann den DDR-Universitäten alles Mögliche anhängen, sie jedoch fast 30 Jahre nach der Wende als nichtdeutsch auszugrenzen, ist ein starker Tobak. Warum die halleschen Universitätsoberen glaubten, dem ehrenwerten Exrektor diesen Unfug hinterherrufen zu müssen, lässt sich nur vermuten. Entweder war es Gedankenlosigkeit oder das wohlfeile Hantieren mit DDR-Abwertungs- und Ausgrenzungsverdikten unter Rückgriff auf deutschnationales Vokabular. Manches, was bisher von diesen Rängen zu hören war, deutet eher auf das Letztere hin. So gab es beispielsweise die dringende Empfehlung, auf die Abkürzung MLU für Martin-Luther-Universität fortan zu verzichten, weil damit Marxismus-Leninismus assoziiert werden könnte. Generell haben ja die Allergieanfälligkeit und die Kopflosigkeit des nationalkonservativ-neoliberalen Lagers durch den selbstverschuldeten Verlust von Alleinstellungsmerkmalen neuerdings bedenkliche Ausmaße angenommen. So ist es en vogue, durch verstärkte Rechtsdrift seines politischen Barometers die ohnehin schon dünnen Barrieren nach Rechtsaußen zu perforieren. Außerdem war und ist es immer billig, dem Unrechtsstaat DDR und seinen Unrechtsbürgern eins auszuwischen, denn »ein Kadaver kann seinem Obduktionsbefund nicht widersprechen« (Heiner Müller). Vielleicht sollten sich die akademischen hohen Herrschaften in Halle einmal bei ihren Historikern danach erkundigen, wie schnell in Deutschland die Verwandlung von Schwarz-Weiß-Rot in das Hakenkreuz schon einmal vonstattengehen konnte.
Zum Verstorbenen wäre noch zu sagen, dass er als Parteiloser seine bemerkenswerte wissenschaftliche Karriere unter Vorwendebedingungen im Wesentlichen behinderungsfrei gestalten konnte. Das fand unter anderem Anerkennung durch die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (1969) sowie in der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften (1968). 1982 erhielt er den Nationalpreis für Wissenschaft und Technik der DDR. Als Rektor sah er zweifellos die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Umgestaltung der Universität Halle ab 1990. Diesbezügliche Vorstellungen formulierte Schilling bereits in seiner Antrittsrede: »Die neue Universitätsleitung verspricht jedoch, in jedem Falle menschliche Lösungen zu suchen und zu finden, die niemanden zu schwere Lasten aufbürden.« Und weiter: »Das bedeutet nicht, dass alles an die BRD angeglichen wird.«
Ihm oblag es nun vorrangig, im Zuge der Umgestaltung den Zusammenbruch von Lehre und Forschung zu verhindern und den Universitätsbetrieb neu zu organisieren. Dazu gehörte auch die Einführung einer neuen Grundordnung. Auf den Kernbereich der Neuformierung, nämlich die Säuberung und Ergänzung des Personals, konnte Schilling ab Herbst 1991 jedoch nur wenig Einfluss nehmen. Von da ab wurde die Musik von anderen Orchestern, mit anderen Instrumenten und mit anderen Dirigenten gespielt. Seine Vorstellungen über »menschliche Lösungen« waren nunmehr weitgehend obsolet geworden. Vielmehr begann ein munteres Scheibenschießen mit einer phänomenalen Trefferquote. Die mit historisch beispielloser Effizienz vollzogene Aussonderung, begleitet nicht selten auch von inquisitorischen Affekten, machte dann aus 70 Prozent der Hochschullehrer Arbeitslose (nicht eingerechnet die aus den vollständig abgewickelten Universitätsbereichen). Wer Glück hatte, fand eine Anschlussverwendung als Sanitärpfleger, Nachtwächter, Versicherungs- und Autoverkäufer, Taxifahrer oder Pharmavertreter.
Gewiss hat Günther Schilling nicht zu jenen gehört, die sich angesichts dieser Vorgänge keinerlei Gewissenskonflikten ausgesetzt sahen. Insoweit dürfte sein Anteil an der Zurückführung der halleschen Universität nach Deutschland ein eher begrenzter gewesen sein. Wer es jedoch nicht lassen kann, die alternativ-lose (Joachim Sauer) Entsorgung der völlig unbrauchbaren (Arnulf Baring) DDR-Hochschulintelligenz als erfolgreiche »Rückführung« der Universitäten nach »Deutschland« zu feiern, der sollte wenigstens dem halleschen Exrektor keine schwarz-weiß-roten Grabsträuße hinterherwerfen. Der hätte sich das gewiss verbeten.
Prof. Dr. Frank Kuschel, Jahrgang 1937, ist Chemiker. Er war von 1961 bis 1992 am Institut für Physikalische Chemie der Martin-Luther-Universität Halle, später bis 2016 in der Fraunhofer Gesellschaft, tätig. Sein Fachgebiet war die Flüssigkristallforschung. 2017 erschien von ihm »Mühlpforte Nr. 1 und die Physikalische Chemie an der Universität Halle. Die Geschichte eines universitären Refugiums« (GNT-Verlag).