Am 6. März 1978 kam es zu einem Abkommen zwischen der Regierung der DDR und den Repräsentanten der Evangelischen Kirche, in dem beide Seiten auf der Basis gegenseitiger Akzeptanz eine Art Frieden schlossen. Der Kirche wurden Freiräume zugesichert, die kein anderer Verein beanspruchen konnte: Sie durfte selbst über innerkirchliche Publikationen und unter ihrem Dach stattfindende Veranstaltungen entscheiden. Die Regierung unterschätzte offenbar, dass die Evangelische Kirche auf diese Weise ganz legal zum wichtigsten Sammlungsort oppositioneller, oft sogar atheistischer Bewegungen werden könnte. In der Wende wollten sich kaum noch Kirchenleute daran erinnern, dass sie zu der Idee genickt hatten, Kirche im und sogar für den Sozialismus sei möglich. »Freiheit statt Sozialismus« wurde schon 1990 der Wahlslogan der Ost-CDU.
Der Kirchenhistoriker Hans Prolingheuer, der verschiedene Funktionen in der Evangelischen Kirche innehatte, gehört zu den wenigen, die sich empörten über das begeisterte Überlaufen zum Kapitalismus, der angeblich den christlichen Zielen mehr verbunden sei. Noch immer sei sich die Evangelische Kirche Deutschlands nicht der Tragweite ihres fatalen Verhältnisses zu Hitlers »Drittem Reich«, einschließlich der Judenverfolgung, bewusst geworden. Statt sich allein den Friedensbotschaften Jesu zu verpflichten, die mit denen des Sozialismus in großen Teilen übereinstimmten – ein gedankliches Erbe von Karl Barth – habe sie sich erneut in den traditionellen staatlich verordneten Antikommunismus einbinden lassen.
Die Überzeugung, dass sich die Kirche aus ihrer seit Kaiser Konstantin bestehenden Verbindung mit Staatswesen befreien müsse, die die Ausbeutung der Mehrheit ihrer Untertanen zulassen und ihnen eine würdige Existenz in Brüderlichkeit nur im Jenseits versprechen, teilt auch Dick Boer, ein Pfarrer aus den Niederlanden, der an der Amsterdamer Universität Geschichte der Theologie im 19. und 20. Jahrhundert lehrte. 1973 war er in die KP eingetreten und auch in der internationalen Bewegung »Christen für den Sozialismus« tätig. Von 1984 bis 1990 arbeitete er als Pfarrer der kleinen Niederländischen Ökumenischen Gemeinde in der DDR, deren Mitglieder in der Regel DDR-Bürger waren, »die ihr Christsein mit einem Engagement für die DDR verbanden – vielfach nach einem mühsamen Lernprozess«. Der habe dazu geführt, dass man in dieser Gemeinde mehr über politische Alltagsfragen als über Theologie diskutierte. In den Gottesdiensten gab es »kein Gebet mit Händefalten und Augenschließen, und das Abendmahl war ein ziemlich unfeierliches Essen und Trinken«. Man hatte also »dem religiösen Gemüt wenig zu bieten«.
Dass Sozialisten meist Atheisten sind, stört Boer nicht. Er sieht keinen Gegensatz zwischen christlichen und marxistischen Perspektiven. Dagegen sei die Religion im Kapitalismus äußerlich geworden; er brauche sie schlicht nicht mehr, weil er den Konsumismus zur neuen Religion erhoben habe, der sich die Menschen mit Leidenschaft verschrieben. Das Christentum sei zum inhaltsleeren Ritus der Mittelklassen verkommen, die sich gegen die Notleidenden dieser Welt abschotten und mit ein paar Almosen ihr Gewissen beruhigen.
An anderen linken Theologen kritisiert Boer, dass sie den realen Sozialismus verschmähten, weil er von seinen selbstgesteckten Idealen weit entfernt gewesen sei oder zu ihnen sogar im Widerspruch zu stehen schien. Er dagegen »mochte die DDR«, weil sie sich seiner Auffassung nach ehrlich um diese Ziele bemühte, wenn auch nicht fehlerfrei und letztlich ohne Erfolg. Sein Engagement für die sozialistische Praxis rührte aus der theologischen Auffassung, dass sich Jesu Auftrag an die Christen auch und vor allem auf das Diesseits bezog. Deshalb wollte Boer »als Genosse« real Verantwortung übernehmen.
Unter diesem Zeichen steht auch seine Lektüre der Bibel. Vor allem das Alte Testament (AT) liest er als geradezu »atheistisches Buch«. Das Verbot, sich Gott bildlich vorzustellen, ihn nicht einmal benennen zu dürfen, und dass es im AT kein Jenseits gibt, bedeute nichts anderes als die Aufforderung an die Menschen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Auch erzähle das AT nicht von der Unterordnung unter ein ausbeuterisches System, sondern rufe zur Befreiung aus einem solchen System auf. Boers Suche nach protosozialistischen Elementen im AT führte zum Beispiel zu dem Hinweis, dass Joseph Ägypten vor einer Hungersnot rettete, indem er privates Land in Staatseigentum überführte.
Nach 1989 wurde Boer der vierzigjährige Weg des Volkes Israel durch die Wüste und die dabei aufkommende Sehnsucht, zu den »Fleischtöpfen Ägyptens« zurückzukehren, zum Gleichnis, mit dessen Verständnis er die ihn tief erschütternde Niederlage zu verdauen suchte.
Boer ist Realist genug, die Niederlage von 1989 als epochal einzuschätzen. Angesichts der zerstörerischen Kraft des globalisierten Kapitalismus könne man nicht mehr von der Sicherheit ausgehen, dass der Sozialismus eines Tages schon siegen werde. Er sei wieder »utopisch geworden, weil seine Wahrheit […] nicht mehr in der Lage« sei, »zur materiellen Gewalt zu werden. Sie kann zwar, wie es auch die Bibel macht, als Weg zum Leben demonstriert werden, so, wie auch begründet werden kann, dass der Weg, den die kapitalistische Gesellschaft geht, tödlich ist. […] Denn diesem tödlichen Weg zu folgen, ist nicht so sehr moralisch verwerflich als vielmehr dumm.«
Allerdings lässt Boer keinen Zweifel daran, dass der Rückgriff auf die Bibel als Richtschnur nicht ausreiche, weil die Welt der Bibel nicht mehr existiere. Deshalb sah und sieht er sich auch als Marxist an und arbeitet im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift Das Argument mit. Der Argument/Inkrit Verlag hat dankenswerterweise einen Band mit seinen Schriften herausgegeben. Wir finden darin auch viele wenig bekannte Stellungnahmen der marxistischen Klassiker zur Religion, die Boer überraschend interpretiert. Auch bietet er originelle Zugriffe auf Adorno, Benjamin, Kant, Fichte, Hegel, Sartre, de Beauvoir, Freud, Brecht, Seghers und natürlich immer wieder auf Karl Barth.
Dick Boer: »Theopolitische Existenz – von gestern, für heute«, Argument/InkriT/Edition Kompass, Berlin 2017, 384 Seiten, 27 €;
Hans Prolingheuer: »Kirchenwende oder Wendekirche? Die EKD nach dem 9. November 1989 und ihre Vergangenheit«, Pahl-Rugenstein, Bonn 1991, 157 Seiten, antiquarisch ca. 10 €.