Undurchdringlicher Nebel. Nicht auf der Straße – in Hamburg auf Kampnagel. Wir sehen Tanztheater, Hofesh Shechter und sein Ensemble mit »Grand Finale«. Der Choreograf aus Israel, der in London lebt und arbeitet, ist auch für die Musik verantwortlich. Warum dieser Dunst, der die Sicht nimmt? Den ganzen Abend lang, mal mehr, mal weniger. Soll es die Luftverschmutzung sein – wie in Peking – oder ein Chemie-Unfall? Die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich so, als hätten sie Schmerzen, werden über den Bühnenboden gezogen wie Tote. Andere schlagen sich anklagend an die Brust, erheben die Hände gen Himmel. Die Musik: laut, rhythmisch, gewaltsam. Große schwarze Stelen werden auf die Bühne geschoben, bedrohlich oder ein Menetekel?
Das Geschlecht der Tanzenden ist nicht leicht auszumachen – alle tragen Hosen und Schlabberhemden – und sie verändern blitzschnell ihre Position. Es könnten Arbeiter sein – doch ein Unfall? Anscheinend. Tote stehen wieder auf, quicklebendig, auch wenn sie vorher herumgerissen, ja misshandelt wurden. Erst schlaff wie Stoffpuppen, dann ein elektrisierender Tanz. Dieser schnelle Wechsel macht selbst den Zuschauer atemlos. Außerdem, wer wie ich in der zweiten Reihe sitzt, ganz am Rand, kann nur Teile der Aufführung sehen, hat vor dem Kopf einen Vorhang, aus dem schon mal Beine hervorragen.
Tänzer verschränken ihre Arme, als würden sie ihre Partnerin halten, aber da ist niemand. Gespenstisch. Ein Stampfen, auch die Musik dröhnt, kämpfen, gegen wen oder was? Dann tanzen zwei fast innig miteinander, nur kurz, vor den Stelen. Der Nebel wird stärker. Nimmt er die Luft zum Atmen, oder warum öffnen alle ihre Münder ganz weit und starr – Angst? Diese Bewegung, festgefroren wie bei Masken. Oder Tote? Ein stummer Schrei. Die Hände bewegen sich, als käme ein Regen auf sie herab. Leise Musik, eine Flöte. Musiker im Frack kommen vorn auf die Bühne. Sie spielen ein Streichquartett von Tschaikowsky. Niemand tanzt. Die Musiker verschwinden nach hinten. Die Klänge jetzt, ganz anders, irgendwie süß, entpuppen sich als Wiener Walzer aus der »Lustigen Witwe« – Hitlers Lieblingsoperette. Dazu schneit es Seifenblasen. Ein Wunder? Oder doch Chemie-Unfall? Die Tanzenden ziehen ihre »Toten« über den Boden – ein Todeswalzer. Plötzlich brüllen – oder lachen – alle, werfen eine Tänzerin hoch in die Luft. Nicht ausgelassen. Der Walzer tut weh. Eine Puppe, die ein Tänzer ist, sitzt vorn auf einem Stuhl, erschlafft, um den Hals ein Pappschild: »Pause«.
Nach der Unterbrechung ist die Gestalt umgefallen, auf dem Schild steht nun »Karma«. Was soll das heißen? Selbstverschuldet? Es kann auch die Vorfahren betreffen – oder ein Hinweis auf die (Umwelt-)Sünden schon heute? Kein Schicksal also, sondern selbstgemacht. Das Streichquartett spielt leise im Hintergrund, dann brutal und laut. Tänzerinnen und Tänzer kommen mit weitausholenden, argumentativen Gesten. Die Musik klingt nun arabisch, ein langsamer, bedrohlicher Tanz. Eine Glocke zeigt etwas sehr Reales an: Lebensrettungsversuche bei Herzstillstand. Alles geht schnell vorbei. Klezmer-Musik, russisch, ungarisch – Verbrüderungstanz? Selbst die Stelen scheinen nun zu tanzen, dazu Trommel und Hackbrett. Ein Paar tanzt selbstvergessen, dann Verzweiflungsgesten. Wildes Umsichschlagen, brüllen. Hinten links geschieht etwas zwischen den Stelen. Einige sitzen am Boden davor und schauen zu. Was sehen sie? Ich kann nichts erkennen. Mag sein, dass sie jetzt alle tot hinter den schwarzen Ungetümen liegen. Leise Kammermusik – versöhnlich? Stille, Dunkel – Schluss. Ach? Großer Beifall für die exzellent Tanzenden.