»Gulag? Gulag?» Die Verkäuferin im Kiosk an der Fernstraße von Jakutsk nach Magadan versteht nur Gulasch. »Gulag? Nie gehört.« Lachen.
So beginnt der Dokumentarfilm Stanislaw Muchas, »Kolyma – Straße der Knochen«. Wenn Mucha einen neuen Film ankündigt, kann man sich auf eine Entdeckung gefasst machen, auf etwas Unerwartetes, Ausgefallenes. Was Mucha dieses Mal neugierig machte, ist der legendäre Ort, die Region, der furchterregende Archipel Kolyma – ein Begriff für Gulag, Leichen, Verbannung, Grausamkeit, Rechtlosigkeit, keine Rückkehr, Tod. Was ist dort geschehen? Was ist vergangen, was geblieben, wie sieht es heute dort aus, welche Erinnerungen gibt es? Kolyma ist eine Region im Fernen Osten Russlands, benannt nach dem Fluss Kolyma, gelegen zwischen Jakutsk und der Ostsibirischen See. Ein Verbannungsort bereits unter dem Zaren, intensiv genutzt in der Sowjetunion unter Stalin ab 1932, Auffangbecken für jene, die in der Welle des großen Terrors am Leben geblieben, aber zu langjährigem Arbeitslager verurteilt worden waren. Sie lebten in bewachten Lagern, leisteten Knochenarbeit im Uranbergbau, in Goldminen, im Straßenbau. Es sollte eine »Schule fürs Leben« sein, doch viele starben, auf Menschenleben kam es nicht an. Gesprochen wird von fünf Millionen Toten. Bauarbeiter oder spielende Kinder stoßen immer wieder auf menschliche Knochen. Mucha spricht mit überlebenden Gefangenen. Sie haben grausige Erinnerungen. Mal wurden 10.000 Gefangene erschossen, mal 2000 Polen. Geschätzt liegen 170.000 Tote unter der 2000 Kilometer langen Trasse. »Ihr fahrt über einen Friedhof«, sagt einer. Manche leiden darunter, verstehen ihr Leben als Buße für die Toten. »Wir tragen den Schmerz von damals in uns«, sagt ein Alter. Die Ruinen der stillgelegten Lager verstärken den Eindruck der Verlorenheit.
Wie lebt es sich heute hier? Die Region hat Großstädte, Hochschulen, Industrie. Die Einwohner haben Arbeit, Wohnung, ihr Auskommen. Gold und andere Edelmetalle werden abgebaut. Junge Männer veranstalten kühne Rallyes, alle wollen studieren, in Sibirien oder in Sankt Petersburg. Das Leben verläuft in ruhigen Bahnen. Putin ist angesehen. Neu angesiedelt sind Kriegsflüchtlinge aus Donezk. Gefragt wurden sie nicht, sondern einfach evakuiert.
In Sibirien gehen die Uhren anders (auch im Wortsinne: Bahnhöfe haben Moskauer Zeit). Mucha macht Aufnahmen von urkomischen Tanz- und Gesangsvorführungen mit patriotischen, aber rührenden Gesängen: »Weiße Vögel über Mütterchen Russland«. Die sowjetische Estrade lebt. Auch Lenin steht in Jakutsk an seinem Platze.
Bei seiner Tour durchs Land stößt Mucha auch auf »irre« Typen, zum Beispiel einen »Erfinder«, der mit Stromstößen Menschen verjüngen will. Nicht komisch ist die Bekanntschaft mit einem Hobbyhistoriker, der Gegenstände und Fundstücke vom Lageralltag sammelt und in seiner Wohnung zu einem »Museum« vereinigt. Der Mann erhielt einen Preis der russischen Regierung. Er findet, dass man die Tragödie nicht überbewerten dürfe, denn 80 Prozent der Gefangenen wären »zu Recht« im Lager gewesen.
»Wie lebt ihr mit der Vergangenheit?«, fragt Mucha einen Schamanen aus der nationalen Minderheit der Jakuten. Nachdenklich urteilt er: »Es ist nicht unsere Straße. Wir meiden die Seelen der Toten. 99 Prozent von dem, was hier geschah, wissen wir nicht. Die Archive sind verschlossen, zum Beispiel über das Schicksal deutscher Kriegsgefangener. Sollen sie verschlossen bleiben! Du kannst die Straße nicht ändern. Ändern kannst du dein Verhältnis zur Straße. Wenn du in Berlin eine Schaufel Erde in die Hand nimmst, wie viele Knochen und wie viel Blut stecken darin? So ist es in ganz Europa.« Im Raum steht: Es gibt kein letztes Wort.
Im Raum steht auch: Was wissen wir eigentlich über Russland? Wir kennen das Bolschoi-Theater, die Philharmonie und die Eremitage in Sankt Petersburg, vielleicht noch den russischen Staatszirkus und den Donkosakenchor und diese oder jene Fußballmannschaft. Ja, und selbstverständlich kennen »wir« den Gulag und den »Krimkonflikt« ganz genau! Ural, hoher Norden, Sibirien, Ferner Osten, russischer Alltag – weiße Flecken.
Da kommt zum Beispiel das musicAeterna orchestra aus dem Opernhaus in Perm, der östlichsten Millionenstadt Europas, in die Berliner Philharmonie. Es spielt im Stehen Mahlers Symphonie Nr. 4. Die Musiker unter Leitung von Teodor Currentzis führen vor, nicht wie man Musik spielt, sondern wie man musiziert. Sie haben das Musikantische an Mahlers Sinfonie verstanden wie vielleicht niemand vor ihnen. Man ahnt, welchen Reichtum an Kultur und Bildung das Land besitzt. Russland und die Sowjetunion haben das Schicksal Europas beeinflusst, wie zuvor die Französische Revolution. Im Großen Vaterländischen Krieg haben sie 27 Millionen Menschen verloren. Die Westmächte und die NATO aber glauben, Russland »erziehen« zu müssen. »Wir« hüten Demokratie und Menschenrechte.
Stanislaw Muchas Film erhebt nicht den Anspruch, alles zu wissen und alles werten zu können. Er sieht sich um, fragt, hört zu. Er lässt die Leute reden, man erfährt viel über ihren Alltag, ihre Erlebnisse, ihre Gedanken. Der Film berichtet über die Tragödie, die Verbrechen, ihre Spuren, ohne Beschönigung, aber ohne Häme. Mucha zieht keine Schlüsse – er bietet dem Zuschauer Informationen, gemessen an dem vielen Unbekannten ein kleiner Ausschnitt, aber ein Beitrag zur Wahrheit.
»Kolyma – Straße der Knochen«, Dokumentarfilm von Stanislaw Mucha, Produktion Tag/Traum Köln, Verleih Wfilm, 85 Minuten. Im Juni kam der Film in die Kinos, ab 25. Januar 2019 wird er als DVD im Handel angeboten werden.