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Titel2518

Auszeichnung für mutige Kurdin  (Rolf Gössner)

Die kurdische Kommunalpolitikerin und Bürgermeisterin Leyla Imret aus Cizre in der Türkei ist kürzlich von der Internationalen Liga für Menschenrechte mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille 2018 ausgezeichnet worden. Die Verleihungsfeier fand im Grips Theater Berlin statt. Zusammen mit Imret hat auch der Diplom-Sozialarbeiter Ottmar Miles-Paul aus Kassel, ehemaliger rheinland-pfälzischer Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen, die Medaille erhalten. In der Begründung der Liga heißt es: »Mit ihrem herausragenden Engagement setzen sich beide Auszuzeichnende mit allem Nachdruck für die Rechte benachteiligter und unterdrückter Menschen ein; sie lenken damit den Blick der Öffentlichkeit auf die soziale und politische Ausgrenzung und Unterdrückung von Minderheiten.«

 

Die nach dem Publizisten, Pazifisten und Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky benannte Medaille verleiht die Liga schon seit 1962. Ausgezeichnet werden Personen oder Gruppen, die sich durch Zivilcourage und herausragendes Engagement um die Verwirklichung und Verteidigung der Menschenrechte und des Friedens verdient gemacht haben.

 

Zurück zu Leyla Imret, einer ganz außergewöhnlichen jungen Frau, deren bisheriges bewegtes Leben sich im kurdischen Südosten der Türkei, dann überwiegend in Norddeutschland, danach wieder in der Türkei abgespielt hat. Wie kam es dazu? Leyla Imret wurde 1987 in Cizre geboren, einer kurdischen Stadt in der Provinz Şırnak in Südostanatolien, am Fluss Tigris gelegen und nahe der Grenze zu Syrien und Irak. Ihr Vater war Widerstandskämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Türkische Sicherheitskräfte töteten ihn 1991, als Leyla gerade vier Jahre alt war. Ihre gesamte Familie geriet zunehmend in Gefahr, weshalb ihre Mutter Leyla im Alter von sieben Jahren zu Verwandten nach Deutschland schickte. Seitdem lebte sie in Osterholz-Scharmbeck in der Nähe von Bremen, wo sie eine behütete Kindheit und Jugend verbrachte, die Schule besuchte und schließlich eine Ausbildung zur Friseurin absolvierte.

 

Erst nach 13 Jahren sah sie ihre Mutter und ihre Geschwister in der Türkei wieder. Und nach fast zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik entschließt sich die junge Kurdin 2013, endgültig in ihre Geburtsstadt Cizre zurückzukehren. Eine mutige und riskante Entscheidung – auch wenn es damals Zeiten des Waffenstillstands und des Dialogs waren zwischen dem türkischen Staat sowie Kurden und PKK. Doch schon bald traf Leyla Imret eine folgenschwere Entscheidung: Sie nahm 2014 für die linksoppositionelle prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mehr oder weniger spontan an der türkischen Kommunalwahl teil und kandidierte für das Bürgermeisteramt ihrer Heimatstadt.

 

Und tatsächlich erhielt sie über 80 Prozent der abgegebenen Stimmen und wurde zur Bürgermeisterin von Cizre gewählt – eine Sensation. Der Name und das hohe Ansehen ihres Vaters, der als Widerstandskämpfer für die Freiheit der Kurden gekämpft hatte und dabei von türkischen Sicherheitskräften erschossen worden war, zeigte in Cizre immer noch Wirkung. Leyla Imret ist die erste Bürgermeisterin des Ortes und zählte mit 26 Jahren zu den jüngsten Bürgermeistern der Türkei. In der Bevölkerung ist sie äußerst beliebt und populär. Während ihrer Amtszeit setzt sie sich mit aller Kraft für Wiederaufbau, Gleichberechtigung und menschenwürdige Lebensbedingungen der rund 140.000 Einwohner zählenden Stadt ein – eine vom Krieg der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung gebeutelte Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen sozialen und strukturellen Problemen.

 

Leyla Imret hatte ihre Freiheit und Sicherheit in der Bundesrepublik aufgegeben, um sich für die Freiheit ihrer Stadt und ihres Volkes einzusetzen – und geriet schon ein Jahr später in dramatische Turbulenzen. Nach den türkischen Parlamentswahlen 2015, als die prokurdische HDP über 13 Prozent der Stimmen gewann und damit als drittstärkste Fraktion die absolute Mehrheit der regierenden AKP kippte, flammte der türkisch-kurdische Konflikt auf Betreiben von Präsident Erdoğan und seiner AKP-Regierung wieder auf. Im Herbst 2015, während Zentraleuropa mit der sogenannten Flüchtlingskrise beschäftigt war, führte die Türkei einen regelrechten Krieg gegen kurdische Städte und ihre Bewohner, verhängte die Regierung Ausgangssperren über mehrere Orte im Südosten des Landes, so auch über Cizre, kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Das türkische Militär bekämpfte die PKK mit schweren Kriegswaffen – zum Teil aus deutscher Produktion. Cizre gleicht in vielen Bezirken einer Geisterstadt, ganze Stadtteile sind verwüstet, viele Menschen getötet und Überlebende vertrieben worden.

 

Im September 2015 eröffnet die türkische Staatsanwaltschaft gegen Leyla Imret ein Strafverfahren wegen »Aufwiegelung des Volkes gegen den Staat« und »Propaganda für eine Terrororganisation« – den Verdacht lieferte ein Interview, das sie ausländischen Medien gegeben hatte, in dem sie angesichts der aktuellen Situation von »Bürgerkrieg« gesprochen haben soll. Ihr drohen 40 Jahre Haft. Kurze Zeit später wird sie – nach zwei Jahren Amtszeit – durch den türkischen Innenminister ihres Amtes enthoben und die Stadt später einer Zwangsverwaltung unterworfen.

 

Leyla Imret versuchte dennoch, in Cizre weiterzuarbeiten, hob noch ein Jugendzentrum für Jugendliche aus der Taufe und plante ein Kultur- und Bildungszentrum für Frauen. Dann geriet sie in akute Gefahr, erlebte eine Wohnungsdurchsuchung, mehrmalige Verhaftungen und Freilassung unter Polizeiaufsicht. Zeitweise galt sie als verschollen – woraufhin sich der Kreistag des Landkreises Osterholz in einer Resolution mit der Bürgermeisterin von Cizre solidarisch erklärte, ihre Freilassung und die Einhaltung der Menschenrechte forderte.

 

Nach dem Putschversuch eines Teils des türkischen Militärs im Sommer 2016 und angesichts ihrer eigenen politischen Verfolgung in der Türkei tauchte Leyla Imret unter, flüchtete außer Landes und schlug sich 2017 über den Nord-Irak in ihre zweite Heimat, nach Deutschland, durch. Nach mehreren Festnahmen und Freilassungen unter Auflagen, so Imret, habe sie sich willkürlicher Bedrohung ausgesetzt gesehen, und angesichts der katastrophalen Menschenrechtslage in der Türkei sei ihr Vertrauen in türkische Gerichte und auf ein faires Verfahren geschwunden. Auch in der Bundesrepublik lebt sie wegen ihres politischen Engagements und angesichts eines dichten türkischen Spitzel- und Agentennetzes nicht wirklich sicher – lebt deshalb zeitweise im Verborgenen. Tatsächlich müssen Kurden, Kritiker und Gegner des autokratischen türkischen Regimes auch hierzulande in einem Klima der Angst leben – in Angst vor Bespitzelung, Verfolgung und Bedrohung oder müssen gar um ihr Leben fürchten. Sie fühlen sich vom bundesdeutschen Staat insoweit jedenfalls nicht ausreichend geschützt.

 

Leyla Imret, deren eindrucksvolles Leben und Schicksal die Berliner Regisseurin Asli Özarslan in einem mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm nachgezeichnet hat (»Dil Leyla«, 2017), setzt sich auch von hier aus weiterhin unerschrocken für eine friedliche und gerechte Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts ein sowie für die Verwirklichung der Menschenrechte in der Türkei – aber auch gegen bundesdeutsche Waffenexporte in die Türkei und eine allzu enge deutsch-türkische Kooperation in »Sicherheitsfragen« und in Sachen europäischer Flüchtlingsdeal. Sie fühlt sich auch im bundesdeutschen Exil weiterhin für die Stadt Cizre und ihre Bevölkerung verantwortlich, deren demokratisch gewählte Bürgermeisterin sie weiterhin ist; und sie setzt sich immer noch für Friedensgespräche zwischen der Türkei und der PKK ein. Denn: »Um die Türkei zu demokratisieren«, so Leyla Imret, »muss die Kurdenfrage gelöst werden … Die Menschen sind erschöpft von der Gewalt.«

 

Trotz ihrer persönlichen Gefährdung zögerte Leyla Imret nicht, als sachverständige Zeugin vor dem nichtstaatlichen Internationalen Tribunal der Völker (»Permanent Peoples‘ Tribunal on Turkey and Kurds«) in Paris zu den unfassbaren Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates in ihrer Stadt auszusagen. Das Tribunal widmete sich im März 2018 den gravierenden Vorwürfen, die türkische Armee habe 2015 und 2016 im kurdischen Südosten Verbrechen und Massaker begangen. Es ging dabei auch um den Vorwurf, die türkische Armee habe Anfang 2016 in Cizre mehrere Keller, in denen Bewohner der Stadt Zuflucht gesucht hatten, beschossen, wobei zahlreiche Menschen verbrannten und ärztliche Hilfe bewusst verhindert worden sei.

 

Eines der sieben Mitglieder des Tribunals, der Hamburger Politikwissenschaftler und Völkerrechtler Norman Paech, hielt anlässlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille die Laudatio auf Leyla Imret. Bereits am 25. Mai 2018 hatte das Tribunal seine Entscheidung verkündet: Die Türkei wird verurteilt wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen, Kriegs- und Staatsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Im November 2018 reiste Leyla Imret dann nach Straßburg, um auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Zeugin zu den Übergriffen während der türkischen Militäraktionen in Cizre auszusagen. Das Urteil steht noch aus.

 

Leyla Imret hat die Carl-von-Ossietzky-Medaille wegen ihres mutigen Engagements für die Rechte der kurdischen Bevölkerung in Cizre, für die politische Lösung der kurdischen Frage in der Türkei, für demokratische Autonomie und Gerechtigkeit mehr als verdient. Sie kämpft für einen konföderalistischen Staat, in dem alle Menschen unabhängig von ihrem ethnischen oder religiösen Hintergrund gleichgestellt sind.

 

Leyla Imret holt gerade das Abitur nach, möchte Politik- und Verwaltungswissenschaft studieren. Eine beeindruckende Persönlichkeit, eine starke Frau und Hoffnungsträgerin für die kurdische Bevölkerung hier und in der Türkei. Sie ist inzwischen eine der beiden Deutschland-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren ehemaliger Vorsitzender Selahattin Demirtaş seit 2016 in türkischer Haft sitzt, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese überlange U-Haft vor Kurzem für rechtswidrig erklärte und die Türkei aufforderte, Demirtaş zu entlassen. Doch die türkische Justiz widersetzt sich offen und im Einklang mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan dieser Entscheidung und hat eine Verurteilung von Demirtas wegen »Terrorpropaganda« zu vier Jahren und acht Monaten Haft im Berufungsprozess kurzerhand bestätigt. Damit ist die U-Haft in eine Strafhaft übergangen. In einem weiteren Verfahren gegen Demirtaş fordert die Staatsanwaltschaft insgesamt 142 Jahre Gefängnis.

 

 

Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie Mitherausgeber von Ossietzky. Als Anwalt, Prozessbeobachter, Delegationsteilnehmer und Referent beschäftigt er sich schon lange mit der politischen Entwicklung der Türkei, mit der kurdischen Frage und einer verhängnisvollen deutsch-türkischen »Sicherheitskooperation« (vgl. Ossietzky 19/2017). Kurztrailer zum Film »Dil Leyla«: https://www.youtube.com/watch?v=qli4o5U5piI Gesamter Film unter: https://vimeo.com/ondemand/dilleyla