Jugendgewalt als Wahlkampfthema – ein Selbstläufer für konservative Politiker? Hartes Durchgreifen, Erziehungscamps, Kinderknast und Abschiebung als staatliche Antworten, wie sie von einer schweigenden Mehrheit gefordert werden? Die Antwort der Wählerinnen und Wähler in Hessen ist deutlich anders ausgefallen: Viele Menschen erkennen inzwischen offenbar den prekären sozialen Hintergrund von Jugendgewalt. Aufgeklärte Zeitgenossen wundern sich ohnehin längst, warum nicht viel mehr perspektivlose, gedemütigte Jugendliche, die nichts zu verlieren haben, wütend zuschlagen, warum die Hartz-IV-geschädigten Arbeitslosen sich immer noch so still verhalten, warum aus der individuellen Empörung über die tägliche Entwürdigung noch keine kollektive soziale Unruhe erwachsen ist. Doch wer sich umhört, hört es schon rumoren.
In manchen bundesdeutschen Großstädten nimmt der soziale Sprengstoff rapide zu. So konstatiert der neueste Armutsbericht der Bremer Arbeitnehmerkammer (»Armut in Bremen«, November 2007) eine soziale Spaltung der Stadt. In Bremen und Bremerhaven gebe es, so der Bericht, »besorgniserregend viele Menschen, Familien und sogenannte Bedarfsgemeinschaften, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind«. Die Tendenz zur Verfestigung sozialer Ungleichheit in der Stadt habe erheblich zugenommen.
Geringe Einkommen, prekäre Arbeitsverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit, Abhängigkeit von staatlichen Hilfen, Verschuldung und Armut konzentrieren sich auf bestimmte Stadtteile, in denen auch viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Solche Stadtteile sind oder werden aufgrund ihrer Bevölkerungsstruktur stark benachteiligt – was zu einer eklatanten Verletzung der Chancengleichheit ihrer Bewohner führt, zu belastenden Lebensbedingungen, sozialer Desintegration und wachsenden Konfliktpotentialen. Denn »Stadtteile, in denen sich die materielle Armut konzentriert«, so der Armutsbericht, bieten »für ihre Kinder und Jugendlichen weniger Chancen als die durchschnittlich wohlhabenderen Stadtteile«.
Immer mehr Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik verarmen und verelenden und haben keine Zukunftsperspektive mehr. Vor diesem Hintergrund waren die Wahlkampfparolen des hessischen Noch-Ministerpräsidenten Roland Koch über zunehmende Jugendgewalt, schärferes Jugendstrafrecht, Erziehungscamps und Kinderknast einfach zynisch.
Gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen zeigt sich die Qualität einer Gesellschaft. Hier weist die Bundesrepublik enorme Defizite auf. So ist dieses Land weit davon entfernt, etwa jene Standards zu erfüllen, die für junge, besonders schutzbedürftige Menschen nach dem Grundgesetz und der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 gelten. In dieser Konvention ist die Rede vom Wohl des Kindes, vom Recht auf soziale Sicherheit, auf angemessenen Lebensstandard und Gesundheit, auf Bildung und Chancengleichheit. Diese Rechte für die Schwächsten der Gesellschaft werden hierzulande nicht annähernd verwirklicht. Bundesweit können etwa 20 bis 30 Prozent der Kinder davon nur träumen – ein miserables Zeugnis für eine hochentwickelte Wirtschaftsgesellschaft. Ob eine Verankerung einklagbarer Kinderrechten im Grundgesetz, wie sie derzeit diskutiert wird, wirksame Abhilfe schaffen könnte, ist indessen zweifelhaft.
Wer angesichts dieser Verhältnisse nach Verteilungsgerechtigkeit fragt, wer fragt, warum es in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik, die sich laut Verfassung dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet hat, überhaupt Armut – auch Bildungsarmut – diesen Ausmaßes gibt und wie strukturelle Abhilfe geschaffen werden kann, der gerät rasch in politischen Verdacht und sieht sich dem Vorwurf von Politikern, gerade auch christlichen, ausgesetzt, er schüre Sozialneid. Ich frage trotzdem: Wie kann es sein, daß in einem der reichsten Länder der Welt so viele Kinder und Jugendliche der Sozialhilfe, Fürsorge und Wohlfahrtspflege anheimfallen? Wie ist es um die sozialen Grundbedürfnisse von Millionen Kindern bestellt, die in Familien aufwachsen, die mit Langzeitarbeitslosigkeit belastet sind und von Hartz IV leben müssen? Oder die – nach dem Motto »Armut durch Arbeit« – unter prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu leiden haben. Im Land Bremen gibt es mittlerweile knapp 100.000 Hartz-IV-Empfänger/innen. Im vorigen Jahr lebten in der Stadt Bremen über 30 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften, in Bremerhaven über 40 Prozent. Das Land Bremen hat die höchste Quote an jungen Hartz-IV-Arbeitslosen im Westen: über 17 Prozent der arbeitsfähigen 15- bis 24-Jährigen und fast jeder vierte Migrant beziehen Sozialleistungen.
Agenda 2010, Hartz IV, Ein-Euro-Jobs und Arbeitsverhältnisse zu Dumpinglöhnen haben das Abgleiten von Beschäftigten und Erwerbslosen in Existenzunsicherheit und Armut beschleunigt und setzen sie unter existentiellen Druck. In diesem Zusammenhang ist an die unsägliche Kampagne gegen »Sozialmißbrauch« zu erinnern, an die Jagd auf angebliche »Abzocker« und »Parasiten«, zu der insbesondere gegen Ende der rot-grünen Koalition im Bund regierungsamtlich geblasen wurde; zu erinnern ist an verschärfte Kontrollen und Überwachungsmethoden, an umfassende Sanktionskataloge bei angeblichen Pflichtverletzungen sowie nicht zuletzt an die Einschränkung der Freizügigkeit und Berufsfreiheit durch verschärfte Erreichbarkeits- und Zumutbarkeitsregelungen bei der Job-Vermittlung. Und wie sind Umzugsaufforderung der Arbeitsagentur und Zwangsumzüge zu werten, wenn die Wohnung zu teuer und zu groß ist? Oder wenn, wie im sächsischen Löbau, ein Zimmer der für zu groß befundenen Wohnung verschlossen werden muß und eine kommunale Behörde aufwendig darüber wacht, daß es nicht benutzt wird?
Der Um- und Abbau der sozialen Sicherungssysteme im Zuge von Agenda 2010 und Hartz IV untergräbt die demokratischen Grundlagen dieser Gesellschaft, die Sozialstaatlichkeit und die Grundrechte der Betroffenen: die freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Informationelle Selbstbestimmungsrecht (Artikel 2 des Grundgesetzes), das Verbot von Benachteiligung auf Grund der Herkunft (Art. 3), die Berufsfreiheit (Art. 12), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13) – und nicht zuletzt die Menschenwürde (Art. 1).
Wer beruft sich hierzulande eigentlich auf die sozialen Grundrechte, die in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 niedergelegt und von der Bundesrepublik anerkannt worden sind? Der klassische Menschenrechtskatalog wurde damit erweitert: Menschenrechte bleiben nicht länger auf die bürgerlich-politischen Rechte beschränkt, sondern umfassen eben auch soziale Rechte. Das verweist auf den untrennbaren inneren Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit und auf »die Würde des Menschen«, die laut Grundgesetz unantastbar ist: »Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« (Art. 1). Soziale Sicherheit ist also nicht wie früher als ein Geschenk paternalistischer oder barmherziger Fürsorge zu verstehen, sondern als ein Rechtsanspruch – und zwar unabhängig von traditioneller Erwerbsarbeit.
Doch die Kodifizierung von Menschenrechten führt nicht von selber dazu, Ungerechtigkeiten, Unterdrückung und Ausbeutung zu beseitigen oder auch nur zu minimieren – solange die herrschenden sozioökonomischen Verhältnisse und eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung unangetastet bleiben. Oder anders ausgedrückt: Wer von sozialen Menschenrechten redet und sie einfordert, kann und darf vom herrschenden Kapitalismus und seinen zerstörerischen Kräften, von neoliberalem Marktradikalismus und den Globalisierungsfolgen nicht schweigen. Denn es sind diese ökonomischen Strukturen und profitorientierten Verteilungsmechanismen, die eine Verwirklichung sozialer Menschenrechte vereiteln – auch wenn Kanzlerin Angela Merkel es hartnäckig leugnet und immer noch behauptet: »Wir leben nicht im Kapitalismus, sondern in der sozialen Marktwirtschaft«. Tatsächlich teilen nur noch fünf Prozent der Bevölkerung die Auffassung, daß wir in einer sozialen Marktwirtschaft, einem »gezähmten« Kapitalismus lebten. Ein historischer Tiefststand.
Mit der Armut ist auch der private Reichtum gewachsen, die Schere zwischen Arm und Reich klafft in bislang nicht gekanntem Maße auseinander. Das zeigt sich an der unterschiedlichen Entwicklung der Einkommen aus Lohnarbeit einerseits und der Einkommen aus Kapital und Vermögen andererseits: Während das Arbeitnehmerentgelt seit längerem stagniert, legten die anderen Einkommen beträchtlich zu. Die gesellschaftliche Spaltung zeigt sich auch an der extrem ungleichen Verteilung der Privatvermögen, als da wären: Immobilien-, Aktien-, Geldvermögen: Zehn Prozent der Haushalte besitzen über 50 Prozent der Vermögen (Tendenz steigend), während die unteren 50 Prozent der Haushalte sich mit gerade mal vier Prozent zufrieden geben müssen, mit zunehmender Tendenz gen Null und zur Überschuldung. Mehrfache Steuersenkungen für Unternehmen und Besitzende haben zu dieser Ungleichverteilung entscheidend beigetragen.
Diese Gesellschaft zerfällt zusehends: Ein Drittel der Bevölkerung ist voll integriert und hat Arbeitsplätze; ein weiteres Drittel lebt in prekären, ungesicherten Beschäftigungs- und Lebensverhältnissen; das letzte Drittel wird zur »Armee der dauerhaft Überflüssigen«, wie es der Soziologe Ulrich Beck zynisch-resignativ benennt. Die Regelsätze von 347 Euro pro Monat für Erwachsene und 208 Euro für Kinder bis 15 Jahre sind viel zu knapp bemessen, sie ermöglichen weder gesunde Ernährung und Wohnverhältnisse noch Teilhabe am soziokulturellen Leben – das sich vielfach aufs Fernsehen reduziert. Am härtesten trifft es die Jüngsten, die Kinder. Die Folgen sind soziale Verunsicherung und Existenznöte, Desintegration und Ausgrenzung, Überschuldung und Verelendung, Mangelerscheinungen und Krankheit, geringe Bildungschancen und Leistungsprobleme, Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit.
Deutschland ist unsicherer geworden. Damit meine ich nicht die Bedrohung durch Terroristen, sondern die soziale Unsicherheit. Diese Entwicklung wird sich noch verschärfen, wenn keine gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität eingeleitet werden. Nichts wird sich bessern, solange die Logik des Wettbewerbs um die besten Bedingungen zur Maximierung der Kapitalrendite oberste Richtlinie der Politik bleibt.
Dieser Beitrag basiert auf einer Rede, die Rolf Gössner, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitte Januar im Gewerkschaftshaus Bremen zur Eröffnung einer Ausstellung des ver.di-Erwerbslosenausschusses zum Thema Arbeitslosigkeit und Hartz IV gehalten hat. Ein zweiter Teil folgt demnächst.