Ein Buch, versehen mit dem Motto »Angst ist keine Weltanschauung«, tut diesem Lande immer gut. Wenn das Buch nicht nur das Leben eines einzelnen Mannes abhandelt, sondern das einer ganzen Familie (Ehefrau und sieben Kinder), die nach diesem Motto in Deutschlands finstersten Zeiten gelebt haben – um so besser. Wäre das Wort nicht so furchtbar vorbelastet, würde ich ja sagen, das Buch sollte an den Schulen zur Pflichtlektüre erklärt werden, damit junge Leute beizeiten und am konkreten Beispiel Schlauheit in der Widerständigkeit lernen können.
Die Rede ist von Hans Magnus Enzensberger und seinem neuesten literarischen Werk. Ich drücke mich bewußt vorsichtig aus, denn ein Roman ist es nicht, den Enzensberger geschrieben hat, auch keine fachhistorische Abhandlung, am ehesten vielleicht eine literarische Biographie, also das, was bornierten Fachwissenschaftlern stets ein Dorn im Auge ist. Die literarische Biographie, so sie gelungen, ist zwar stets auf der Basis kritisch verarbeiteter Quellen geschrieben, geht aber mit den Mitteln literarischer Bearbeitung über das hinaus, was in den Quellen belegt ist, fügt (aus der Sicht des Historikers) nicht Belegbares ein, läßt (aus der Sicht des Autors) weniger Wichtiges weg, genießt die licentia poetica, die dichterische Freiheit. Ein Greuel für den positivistischer Datenhuberei verpflichteten Historiker. Bei Enzensberger finden sich historische Glossen, fiktive Totengespräche, historische Dokumente, zeitgenössische Fotografien, all dies eingestreut in die keineswegs vollständig erzählte Lebensgeschichte des 1943 verstorbenen Generals Kurt von Hammerstein-Equord (von 1930 bis 1934 Chef der Heeresleitung, im Klartext: Generalstabschef der Reichswehr), seiner Frau Marie (mindestens ebenso interessant wie ihr Mann), seiner sieben Kinder (geboren zwischen 1908 und 1923), von denen keines zu den Nazis gehörte, alle zum Widerstand, und die alle die Schreckensherrschaft überlebt haben.
Nein, ein Werk, auf das der Historiker sich berufen kann (wie auf das eines Fachkollegen), hat Enzensberger nicht geschrieben. Manches allzu knappe Fehlurteil hätte er besser unterlassen sollen (etwa das über die Weimarer Republik oder das über die »Stasi«-Verpflichtung von Gerd Caden), manches Stück fehlt im Quellenverzeichnis (die Erinnerungen der Lebensgefährtin von Hans Kippenberger, Christine Kjossewa, erschienen 1990 in den »Beiträgen zur Geschichte der Arbeiterbewegung«, die von Hubert von Ranke stehen im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München) und vor allem: Viele Fragen bleiben offen, weil Zeitgenossen schwiegen und Akten nichts enthielten.
Was beispielsweise wußte oder ahnte der Vater von der Tätigkeit seiner Töchter für den militärischen Geheimdienst der KPD beziehungsweise der Komintern? War ihm nie bewußt, daß alle drei vor ‘33 »Judenliebchen« waren? (Der einen verhalf er zur Emigration nach Japan, die zweite verlor ihren Freund im Stalinschen Terror, die dritte hatte sich lange vor der »Machtergreifung« von dem ihren getrennt, und der wurde gleich nach dem Reichstagsbrand verhaftet und später in Buchenwald umgebracht.) Er war viel zu schlau, als daß er nichts ahnte ... Als ihm eine Agentin des Geheimdiensts der Roten Armee 1936 Grüße ihres obersten Chefs (also seines ehemaligen Partners in der militärischen Zusammenarbeit vor ‘33) übermittelte, fragte er nur, ob ihre Nachrichten über die sowjetische Botschaft in Berlin vermittelt würden, und als sie das verneinte, grüßte er zurück ...
Das Buch wird von vielen ungern gelesen werden: von denen, die nach wie vor behaupten, daß »man« ja »nichts tun konnte«, von jenen, die nach wie vor die Stalinschen Verbrechen beschweigen und bestreiten, von Neonazis sowieso, aber ebenso von »Nazijägern«, die nicht zugeben können, daß es auch damals anständige Deutsche gegeben hat, sogar »da oben«, die nicht den Kopf einzogen, ihn aber immer aus der Schlinge gezogen haben.
Sollte Enzensbergers Plan aufgehen und das Buch verfilmt werden (sicherlich nicht von Guido Knopp, hoffentlich von Alexander Kluge), wird sich die feige Zunft erst recht das Maul zerfetzen. Es sei ihr gegönnt und dem Publikum ein atemberaubender Film.
Hans Magnus Enzensberger: »Hammerstein oder Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte«, Suhrkamp Verlag, 375 Seiten, 22.90 €