Das Land der Bayern, über dessen weiten Gauen laut der Landeshymne Gottes Segenshand waltet, gibt der Welt immer wieder Rätsel auf: Ist der berühmteste bayerische König, Ludwig II, der Märchenkönig, durch Selbstmord oder durch ein Attentat dahingeschieden, war er wirklich wahnsinnig, oder wurde er Opfer einer Verschwörung? Warum bereitete ausgerechnet der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker bei dessen Besuch in der Bundesrepublik 1987 den prächtigsten Empfang, indem er – unter anderem – alle Straßen vom Flughafen bis zu seiner Staatskanzlei mit unzähligen Staatsflaggen der DDR schmücken ließ? Weshalb haben Erwin Huber und Günther Beckstein den so überaus erfolgreichen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber politisch gemeuchelt und ihn als EU-Aktenvernichter nach Brüssel verbannt? Warum zogen die Münchner Narren gerade am diesjährigen Holocaust-Gedenktag zu Tausenden fröhlich und ausgelassen durch die bayerische Metropole München?
Nahezu zeitgleich ist jetzt ein neues Rätsel hinzugekommen: Warum sind Bayerns Schüler über die Geschichte der DDR besser informiert als Gleichaltrige in Ostdeutschland, und weshalb ist ihr Vorsprung sogar dermaßen groß, daß bayerische Hauptschüler über einen größeren Kenntnisstand verfügen als die Gymnasiasten in Brandenburg? Das ist nämlich das Ergebnis der vierten Teilstudie einer Untersuchung des SED-Forschungsverbunds der Freien Universität in Westberlin unter der Leitung des DDR-Diktatur-Spezialisten Klaus Schroeder. »Von allen Schülern wissen die bayerischen am meisten und sehen die DDR am kritischsten«, sagt der Studienmacher. Eine große Mehrheit von ihnen, 72 Prozent, hätten keinen Zweifel daran, daß der SED-Staat eine Diktatur war. Im Gegensatz dazu idealisierten die brandenburgischen Schüler die soziale Seite der DDR und zögerten gleichzeitig, sie als Diktatur zu bezeichnen. Weniger als die Hälfte von ihnen hätten in der Umfrage angekreuzt, daß das SED-Regime eine Diktatur gewesen sei. Rund ein Viertel habe dagegen die DDR »ausdrücklich für keine Diktatur« gehalten. Fazit der Studie: Bayerns Hauptschüler sind über das SED-Regime besser informiert als Gymnasiasten aus Brandenburg.
Nun rätselt ganz Deutschland, worin die Ursachen für diesen neuerlichen grandiosen Sieg Bayerns zu suchen sind. Ist er der Höhe der Berge zu verdanken, die bei guter Fernsicht den besten Überblick in Deutschland ermöglichen? Hat der Umstand, daß die Erhebung von der Münchner Landeszentrale für Politische Bildung finanziert wurde, zum Triumph beigetragen? Ist es das Kruzifix in den bayrischen Klassenzimmern, das den Schülern besondere geistige Kräfte verleiht? Oder ist es das altbewährte dreistufige Schulsystem selbst, das durch intensive Beschäftigung mit der Geschichte die bayerischen Pennäler so überlegen macht? Letzteres meint zumindest der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Hartmut Koschyk, der unmittelbar nach der Siegesmeldung mit Blick auf andere Bundesländer forderte: »Die Geschichte der deutschen Teilung und der SED-Diktatur dürfen keine Tabu-Themen in der Schule sein, sondern müssen zentraler Inhalt des Geschichtsunterrichts in ganz Deutschland sein. Bayern geht hier mit bestem Beispiel voran.«
Freilich finden sich einige Wermutstropfen im CSU-Freudenbecher. Auch in Bayern gibt es nicht wenige Schüler, die der DDR Positives abgewinnen. Der untergegangene Staat punktet unter anderem durch niedrige Mieten, eine intensivere Sportförderung und den sicheren Job. Wie ihre Altersgenossen in Brandenburg wünschen sich auch in Bayern viele Schüler eine Arbeitsplatzgarantie und eine »umfassende staatliche Planung und Lenkung der Wirtschaft«. Rund 40 Prozent der Haupt- und Realschüler bejahten dies ausdrücklich. Schroeder führt die »Sehnsucht nach dem sozial starken Staat« auf »eigene Zukunftsängste« zurück. Noch schlimmer sind hier die Ergebnisse in Brandenburg: Mehr als 70 Prozent finden es »gut, daß in der DDR jeder einen Arbeitsplatz hatte, auch wenn der Staat die Löhne bestimmte«.
Forscher Schroeder, den die Ergebnisse der Umfrage nach eigenem Bekenntnis »vom Hocker gehauen« haben, kennt die Gründe für diese ideologischen Mißstände: »Es fehlt den Schülern das Gegenbild«, sagt er. In der Schule würden die Brandenburger Schüler kaum etwas über die DDR lernen. Ihr Bild entstehe aus Gesprächen mit den Eltern, manchmal aus Filmen. Vor allem die Eltern und Verwandten zeichneten aber ein Bild von der DDR, das ihre soziale Seite überbetone und ihren Diktaturcharakter ausblende. Kurzum: »Die Erwachsenen basteln sich da eine DDR zusammen, die es nie gegeben hat.« Die Schüler würden offensichtlich mit den Erzählungen ihrer Eltern allein gelassen, die die DDR verklären und romantisieren. Die Erzählungen und Einschätzungen der Eltern und Verwandten seien für sie oft die einzige Informationsquelle über die DDR.
Dieser Zustand ist selbstredend untragbar und guter Rat teuer. Aber auch der kommt aus München. Der jubelnde CSU-Geschäftsführer Koschyk gibt ihn: »Generationen, die nach dem Mauerfall aufgewachsen sind, müssen sich kritisch mit der deutschen Teilung auseinandersetzen können. Das funktioniert nur durch Wissensvermittlung in der Schule.« Da hat er nur allzu recht. Das bayerische Beispiel zeigt es. Die Erfahrungen ostdeutscher Eltern und Großeltern, ihr Leben in der DDR dürfen keine Rolle spielen. Traut ihnen nicht! Möglicherweise waren sie in der SED, in der FDJ, in den Blockparteien, in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) oder gar bei der Stasi. Darum gilt es, echte Profis zu befragen, zum Beispiel solche, die ihre schwere Aufklärungsarbeit in der »Stiftung zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur«, in der »Gedenkstätte Hohenschönhausen« oder bei der »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR« leisten. Diese Experten aus dem Westen haben starke Verbündete an ihrer Seite, darunter auch den Erzliberalen Guido Westerwelle, der kürzlich freimütig eingestand: »Wenn ... der bekannte Schauspieler Peter Sodann öffentlich hofft, daß das ›DDR-Experiment‹ bald in Deutschland wieder eine Chance bekommt, schüttelt es mich. Ich sehe darin eine erschreckende Verharmlosung. Ich finde die Romantisierung der DDR von einigen Intellektuellen zum Kotzen.«
Von gelebten Leben in der DDR, ganz zu schweigen von ihrer »Romantisierung«, sind die bayerischen Lehrer und die von ihnen benutzten exzellenten Lehrbücher glücklicherweise weit entfernt. Um so näher sind wir damit allerdings der Lösung des neuen bayerischen Rätsels. Wenn den Schülerinnen und Schülern möglichst nichts anderes als ordnungsgemäß freistaatlich zubereitetes Wissen serviert wird und wenn sie es ohne Erfahrungszutaten und ohne relativierende Diskussion schlucken müssen, dann werden die Hauptschüler in München und Augsburg selbstverständlich besser als die Gymnasiasten in Brandenburg imstande sein, auf vorfabrizierte Fragen vorfabrizierte Antworten zu geben – vor allem über die DDR-Diktatur. Brav.