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Zusammen sind sie schwach  (Monika Köhler)

Die Hauptrolle spielt die Drehbühne: Wohnzimmer, Schlafzimmer mit Blümchentapete, hellblaues Bad, große Küche, Kinderzimmer als Abstellraum, Zimmer mit Klavier, Diele und Eingangsbereich mit Türen, Namensschildern. Frauen sitzen oder stehen herum, zupfen etwas, feilen Fingernägel, völlig abwesend, die Männer, in sich versunken, beschäftigen sich mit nichts. Menschen, die sagen: »Uns gibt es vielleicht gar nicht«, erzählen eine Geschichte, bruchstückhaft.

So beginnt »Das letzte Feuer« von Dea Loher im Hamburger Thalia-Theater. Regie führte Andreas Kriegenburg, der die meisten Stücke von ihr inszenierte. Bühnenbild: Anne Ehrlich. Jeder der Schauspieler trägt einen Teil zum Geschehen bei: »Wir fügen die Scherben zusammen.« Ein kollektives Erzählen, Erinnern, immer auf der Suche nach der richtigen Sprache, nach dem Mittel, sich verständlich zu machen, mal ganz konkret, mal sehr lyrisch gehoben – immer auf der Suche nach sich selbst.

Was ist geschehen? Ein Kind wurde beim Ballspielen überfahren. Die junge Polizistin Edna (Lisa Hagmeister), auf der Verfolgungsjagd nach einem fiktiven Attentäter, der ein Auto gestohlen hatte, verursachte den Unfall. Irgendwie fühlen sich alle mitschuldig. Die Mutter des Jungen, Susanne (Natali Seelig), deren Liebe zu ihrem Mann Ludwig (Jörg Pose) abgekühlt ist, klagt sich an, lebt nur noch dieser Schuld. Alle werden getrieben von diesem Gefühl, laufen wie verfolgt durch die Zimmer, die keine Zuflucht bieten, der Boden bewegt sich. Ein Ort der Ruhe für Ludwigs Mutter Rosmarie (Katharina Matz) ist vielleicht die Badewanne, in die sie sich zurückzieht und in der sie von Susanne gepflegt wird. Rosmarie fragt immer wieder nach ihrem Enkel Edgarchen. Auf einer Klassenreise, sagt Ludwig. Tot, sagt Susanne. Rosmarie hat ihr Gedächtnis verloren. Sie ist alzheimerkrank. Manchmal ist sie die einzige, die sich erinnert.

Dann ist da noch Olaf (Matthieu Svetchine), der herumlungert, auch mal Drogen nimmt, arbeitslos. Er stahl das Auto von Karoline (Susanne Wolf), die Lehrerin war, aber ihren Beruf aufgab – sie zerbrach an der Gefühllosigkeit der Schüler und ihrer Kollegen vor allem. Karoline trauert ihrer verlorenen Brust nach, die ihr der Krebs raubte. Sie versucht, mit Prothesen die Unversehrtheit wiederherzustellen, und sucht ein wenig menschliche Wärme bei Rabe (Hans Löw), einem Soldaten, der innerlich zerstört aus irgendeinem Krieg zurückkam. Rabe, der Fremde, glaubt sich schuldig am Unfall, er, der einzige Zeuge: wie er mit dem Jungen Kontakt aufnahm, seinen Ball festhielt, während Edgar ins Auto lief. Aus Verzweiflung (und als Sühne?) feilte Rabe seine Fingernägel bis auf die Fingerkuppen ab, so daß seine Hände handlungsunfähig geworden sind. Er sagt: Wäre ich lieber Ruderer geworden als Soldat. Und er streichelt mit seinen verbundenen Fingern Karolines Plastikbrüste – nicht nur aus Mitleid.

Und Peter (Markwart Müller-Elmau), der in seinem Alter die Hoffnung auf Arbeit aufgegeben hat. Aber sein lammfrommer Riesenhund »Humboldt« findet eine Stelle als Begleithund eines Nachtwächters.

Wie kann man Worte finden für das, was geschehen ist? Das fragt sich nicht nur Rabe, der vom Krieg Traumatisierte, der sich jetzt in diese neue, naheliegende Schuld flüchtet. Ludwig, Susannes Mann, sucht nach Worten, sie zu trösten, aber sie verschließt sich ihm. Seine Hände hängen hilflos herab, zu nichts nutze. Susanne und Rabe kommen sich näher, doch diese aufkeimende Beziehung ist zum Scheitern bestimmt. Er kann nicht ertragen, daß sie sich ununterbrochen verurteilt. Weil er genauso fühlt und keinen Ausweg weiß? Die Zimmer drehen sich immer schneller. Er schlägt auf Susanne ein. Seine Schläge, die sie niederstrecken – brutal, er hat es gelernt –, gelten auch ihm selbst, stellvertretend.

Die von der Gesellschaft Ausgestoßenen, Versehrten schlagen aus Schwäche, aus Hilflosigkeit. Das Wir, das sie alle verzweifelt im Erinnern suchen, bricht immer wieder auseinander. Die Aufführung zeigt modellhaft diese Suche nach irgendeiner Sicherheit, nach einem Weg aus diesen rotierenden Zimmern, die den Einzelnen an den Rand schleudern.

Zum Schluß ist die Wohnung verlassen, die Zimmer sind leergeräumt. Müllsäcke stehen herum. Und die Bewohner als Tote – oder Untote – geben Erklärungen ab: wer tot ist und wer gerade noch lebt. »Das letzte Feuer« – wir sehen es nicht. Es ist ein Gemälde, und es ist die Verzweiflungstat Rabes, der sich mit Benzin übergießt und allem ein Ende setzt.

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Auf Kampnagel – seit ein paar Monaten unter der Leitung von Amelie Deuflhard – läuft jetzt das Mini-Festival »Forever Young«. Unter diesem höhnischen Titel erleben wir Tanztheater, auch Diskussionen zum Thema Altern.

Philippe Olza, ein Schweizer Choreograf und Tänzer (früher bei Béjart), ironisiert den Umgang des alternden Tänzers mit dem eigenen Körper. Seine Choreographie »Voilà!« wird eingeleitet von einer Diskussion zum Thema »Das Alter, Halbzeit für Mensch und Körper«. Philippe Olza – hat es ihn gelangweilt, was sich da vorn mit Worten dahinschleppte? Er räumt auf, nimmt die Gläser weg, den Tisch, dann die Stühle. Vorher schon hatte er sich des roten Teppichs bemächtigt, war daruntergekrochen – aus Furcht vor dem, was ihm bevorsteht? Sein einziges Requisit ist ein großer gelber Staubsauger mit menschlichen Zügen. Die Falten des Teppichs lassen sich so wenig glätten wie die der Haut. Er testet seine Glieder, prüft jedes Teil auf seine Brauchbarkeit, hechelt herum. Und tanzt Ballettposen, die lächerlich wirken. Dann merkwürdige Verrenkungen – tut ihm was weh? Das Gerät neben ihm stößt ein Röcheln aus, Stöhnen, all das, was sich ein Tänzer verbietet. Irgendwann spricht er ganz überraschend: »Du wirst ein Soldat, weil, im Leben sind wir alle Soldaten.« Dann: »Du wirst ein guter Tänzer.« Ist er fremdbestimmt? Dann: »Ich finde Halbzeit toll, ich finde es super.« Und jeder spürt: Für einen Tänzer gilt das nicht. Das, was die Diskussion kaum berührte, das Nachlassen der Kräfte und die Furcht davor – Philippe Olza ließ es hautnah an die Zuschauer heran.