Alles schon mal dagewesen
Weihnachten 1979 besetzte die riesige Sowjetunion in einem Handstreich das kleine Afghanistan. Ich war damals elf Jahre alt. Bis zum Abzug der Sowjets 1989, meinem einundzwanzigsten Lebensjahr, verfolgte ich gebannt die Dokumentationen über den afghanischen Widerstand, die in regelmäßigen Abständen über westdeutsche Bildschirme flimmerten. Man pries den heldenhaften Widerstand der gläubigen Moslems, die sich zu Recht gegen das ihnen zutiefst fremde kommunistische Gesellschaftsmodell wehrten und unter »Allah uakbar«-Rufen die Panzer der sowjetischen Armee abschossen. In ihrem kommunistischen Beglückungswahn zerstörten die verdammten Russen ganze Dörfer, weil sie den Afghanen unbedingt vorschreiben wollten, wie sie zu leben hätten. Aber schon die britische Weltmacht im 19. Jahrhundert hatte sich, wie unsere Medien in Erinnerung riefen, am Hindukusch die Zähne ausgebissen.
Heute sehen wir Afghanistan-Film-chen über fanatische Moslems, die sich unverständlicherweise gegen die humane Entwicklungsarbeit westlicher Mächte in Afghanistan auflehnen und an archaischen Gebräuchen festhalten wollen – wie etwa denen, Mädchen keine Bildung zukommen zu lassen. Die früher ehrfurchtsvoll »Mudschahedin« genannten sind jetzt nur mehr verachtungswürdige »Taliban«. Die Zerstörungen ganzer Dörfer durch US-Flugzeuge müssen als bedauerliche, aber unvermeidliche Kollateralschäden im Kampf gegen unbelehrbare »Allah uakbar«-Rufer verstanden werden. Die wenigsten
Kommentatoren lassen einfließen, daß bereits Briten und Sowjets in Afghanistan militärisch gescheitert sind. Die NATO wird siegen, weil sie siegen muß.
Und ich frage mich die ganze Zeit: Sind die Menschen wirklich so blöd, oder täuscht mich mein Gedächtnis? Erkennt denn niemand, daß hier schwarz gemalt wird, was gestern noch weiß war?
Stefan Hug
Kriegsflughafen Leipzig
Der Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle zur Drehscheibe für die US-amerikanischen Militärinterventionen im Irak und in Afghanistan (s. Ossietzky 6/07) geht weiter. Wie die Leipziger Volkszeitung im Lokalteil berichtet, verhandelt die Flughafenleitung gegenwärtig mit ATA Airlines aus Indianapolis, die für ihre Truppentransporte im Auftrag des Pentagon künftig diesen Flughafen benutzen will. Bereits im Golfkrieg 1991 transportierte ATA Airlines 108.000 Soldaten in den Mittleren Osten. Wann sie ihren Flugbetrieb in Leipzig aufnehmen wird, mit wie vielen Flugzeugen und wie oft am Tag oder im Monat, darüber könne man keine Auskunft geben, wird die ATA-Unternehmenssprecherin Maya Wagle zitiert. Es handele sich um Militär-Charterflüge, »und da geben wir keine Informationen an die Öffentlichkeit heraus«. Daß auch die Leipziger Flughafendirektion schweigt und nicht einmal wissen läßt, wie viel sie daran verdient., wenn wundert’s.
Schon seit Mai 2006 läßt die US-Luftwaffe Nachschub für die Kriege in Afghanistan und im Irak mit Zivilmaschinen der Fluggesellschaften World Airways und North American Airlines über den Flughafen Leipzig/Halle transportieren. ATA wäre dann die dritte nordamerikanische Fluggesellschaft, die hier ihre völkerrechtswidrigen Kriegsaufträge ausführt. Mehrheitsgesellschafter des Leipziger Flughafens ist übrigens die Mitteldeutsche Flughafen AG, die sich im Besitz des Freistaates Sachsen (73 Prozent), des Landes Sachsen-Anhalt (14 Prozent) sowie der Städte Dresden (6), Halle (5) und Leipzig (3 Prozent) befindet.
Edmund Schulz
Offene Worte, eine Ampel im Blick
Ein bißchen nervös geworden sind sie schon, die SPD-Oberen, nachdem in Niedersachsen und Hessen Linksparteiler in die Parlamente gelangt sind. Auf dem Politmarkt herrschen rauhe Sitten, und selbst eine noch ganz kleine Konkurrenzfirma kann das Geschäft durcheinanderbringen. Also lassen sozialdemokratische Prominente das programmatische Gerede vom »demokratischen Sozialismus« beiseite und sprechen, wie ihnen ihr Schnabel gewachsen ist: »Durch eine noch linkere Politik kriege ich sie nicht weg« (die Linkspartei), sagte Peter Struck dem Focus, und Peer Steinbrück verriet dem Spiegel, das »Thema soziale Gerechtigkeit« sei »nicht hinreichend für Wahlsiege«, deshalb dürfe die SPD »nicht nach links unten schielen«. Daß die beiden Herren machtpolitisches Kalkül so ungeniert äußern, muß man nicht bedauern. Ob ihre Rechnungen stimmen, ist allerdings fraglich. Durch eine noch rechtere Politik wird die SPD die Linkspartei auch nicht »wegkriegen«, und wenn sie mit beiden Augen willig nach rechts oben schaut, bringt ihr das keinen Wahlsieg. Da bleibt nur die Hoffnung auf eine Ampel, nach der nächsten Bundestagswahl; und die empfehlen denn auch Struck und Steinbrück. Kurt Beck hat zweifellos Gefallen daran. Neoliberal in drei Farben – da könnte sich zusammentun, was zusammenpaßt. Die Durchkapitalisierung von Gesellschaft und Politik braucht Abwechslung in der Präsentation und im Personal. Rot-Grün hat seine Dienste getan, Schwarz-Rot wirkt ziemlich trist, Rot-Gelb-Grün könnte erst einmal unverbraucht auftreten.
Arno Klönne
Bewegung, bitte
Man könne nichts machen, meinen viele. Man kann viel machen, zeigen die Autoren des Buches »Damit sich was bewegt«. Als Beispiele dienen Projekte, die von der Bewegungsstiftung gefördert werden. Die Liste reicht von Attac und Berliner Bündnis gegen Privatisierung bis urgewald und War Resisters’ International. Die Stiftung, in die schon einige Millionen Euro eingezahlt wurden, fördert auch Einzelpersonen, sogenannte Bewegungsarbeiter. Die nächste »Strategiewerkstatt« mit Förderern und Geförderten findet Anfang März in Berlin statt. Das Buch wird der Stiftung gewiß helfen, neue Freunde zu finden und sie zu gesellschaftlichem Engagement zu ermuntern. Nähere Auskünfte im Internet: www.bewegungsstiftung.de
E.S.
Felix Kolb/Bewegungsstiftung (Hg): »Damit sich was bewegt – Wie soziale Bewegungen und Protest Gesellschaft verändern«, VSA, 126 Seiten, 9.80 €
Der Konflikt ist lösbar
Ehud Olmert, der israelische Ministerpräsident, kündigte der Opposotion an, daß es eine endgültige Einigung zur Lösung des Konflikts mit den Palästinensern »in den kommenden 20 bis 30 Jahren« nicht geben werde.
Wohlerwogene, gründlich diskutierte, auf die Interessen aller Konfliktparteien eingehende Lösungsvorschläge enthält das Heft »Der Israel-Palästina-Konflikt«, verfaßt von Andreas Buro und Clemens Ronnefeldt, herausgegeben von der Kooperative für den Frieden, Römerstraße 88, 53111 Bonn. Ein Heft kostet 1.20 €, bei Abnahme von fünf Heften 1.00 €. Eine ermutigende Publikation, die viele Handlungsmöglichkeiten zeigt – auch für eine auf Frieden bedachte deutsche Außenpolitik und für die deutsche Friedensbewegung.
Red.
Halbiertes Format
Die Frankfurter Rundschau hielt es zum 75. Jahrestag des Beginns der Nazi-Herrschaft für angebracht, die »68er« zu verurteilen, die es den »33ern« nachgemacht hätten: So wie die Studenten von 1933 die Schriften von Marx und Heine, Tucholsky und Ossietzky verbrannten, so blockierten die Studenten 35 Jahre später die Druckereien der Bild-Zeitung. Ein und dasselbe Pack. Ganz klar. Auf vier Seiten mit Bildern dokumentiert.
Ich muß dazu ein paar Bemerkungen machen. Ich habe mehr als 35 Jahre für die FR, eine 1945 von Antifaschisten gegründete Tageszeitung, gearbeitet, in der Zeit um 1968 in der Nachrichtenredaktion. Die Themen, die mir die Ressortleitung zugewiesen hatte, waren die Studentenbewegung, die Notstandsgesetzgebung und der Vietnamkrieg. Die Berichterstattung der FR zu diesen Themen unterschied sich von der aller anderen damaligen westdeutschen und Westberliner Tageszeitungen. In Hamburg und Berlin, wo der Springer-Konzern dominierte (eine Überschrift in Springers BZ gegen Demonstranten in Berlin lautete knapp »Ausmerzen!«), bot unser Verlag mit großem Erfolg verbilligte Abonnements für Studenten an. Viele Studenten von damals blieben auch später FR-Abonnenten, bundesweit. So gewann die FR allmählich überregionale Bedeutung. Ein anderer Grund war in den folgenden Jahren ihre Unterstützung der sozialliberalen Ostpolitik – gegen die Hetze des Springer-Konzerns.
Das ist lange her. Inzwischen gehört die FR zum DuMont-Konzern, der eine ganz andere Geschichte hat: In der Nazi-Zeit verbreitete er bis zum Schluß Goebbels-Propaganda.
Ich war kein »68er«. Meine politische Sozialisation hatte zehn Jahre früher stattgefunden. Aber im Protest gegen den Krieg, gegen die Notstandsgesetzgebung, gegen die Springer-Hetze schienen mir einige Körner aufzugehen, die wir 58er in den tiefschwarzen Adenauer-Jahren gesät hatten. Das Weiterwirken alter Nazis in Führungspositionen des Staates und der Gesellschaft, ihr Schweigen über die Vergangenheit, ihre Unbelehrbarkeit, ihr fortdauernder antisozialistischer Eifer – das alles empörte damals viele Studenten, Schüler und auch junge Arbeiter. Was sie forderten, war eine Politik durchgreifender Demokratisierung im Innern und friedlicher Verständigung mit allen Nachbarn – statt eines dumpf drohenden Revanchismus. – Und dieses Engagement wird heute verhöhnt und verfemt und mit den Verbrechen derer gleichgesetzt, gegen die es sich richtete.
Die Redaktion der FR unterließ es, sich für den von Götz Aly verfaßten Artikel über die »33er« und die »68er« – eine widerwärtige Verharmlosung des Naziregimes – zu entschuldigen. Das wäre ihr auch schwer gefallen, denn er war kein einzelner Ausrutscher. Die FR hat im vergangenen Jahr nicht nur ihr Papierformat halbiert. Auch ihr publizistisches.
Eckart Spoo
Alltägliche deutsche Geschichte
Mit irgendwelcher historischen Schuld sind »wir Deutschen« längst fertig. Schon Franz Josef Strauß befand ja, »wir Deutschen« hätten so viel geleistet, daß wir es nicht mehr nötig hätten, uns Auschwitz vorhalten zu lassen. Spätestens durch die neue Geschichtsschreibung und Fernsehbildmalerei à la Guido Knopp ist endgültig klargestellt, daß »wir Deutschen« alle Opfer waren: Opfer Hitlers, der angloamerikanischen Bomber und der Russen. Diese endgültige Wahrheit setzt sich durch und erfüllt »uns Deutsche« mit tiefer Befriedigung. Wenn aber doch noch irgendetwas aufzuklären ist, dann empfiehlt sich die Formel »Was es alles nicht gegeben hat!« – eine Fortentwicklung des guten alten »ja aber auch«.
»Es gab keinen Widerstand gegen das Regime – aber auch keinen Enthusiasmus für die Partei und ihre Führung. Es gab keinen ausgeprägten Antisemitismus – aber auch keinen Versuch, sich gegen den Rassenwahn aufzulehnen.« So faßte, wie in Ossietzky 21/07 berichtet, Wolf Lepenies, Mitglied des Aufsichtsrats der Axel Springer AG, das von dem Historiker Misha Aster auftragsgemäß verfaßte Buch über die Rolle der Berliner Philharmoniker in der Nazi-Zeit zusammen. Fazit: »Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus – eine (fast) alltägliche deutsche Geschichte.« (August 2007)
Musik ist Alltag, Fußball ist Alltag – damals wie heute.
Der Verein Hertha BSC beauftragte den Historiker Daniel Koerfer, ein bisher verdrängtes Kapitel seiner Vereinsgeschichte aufzuarbeiten. Der Professor an der Freien Universität Berlin lieferte eine Studie von 70 Seiten: »Hertha B.S.C. im Dritten Reich – Die Jahre 1933 – 1945«. In einer Presseerklärung vom 5. Dezember 2007 kommt der Gelehrte laut ORF-Website Neues aus der Wissenschaft zu dem Schluß:
»Es gab keinen Widerstand gegen das Regime, aber auch keinen tief verankerten, fanatischen Enthusiasmus für die Partei und ihre Führung, von der Bewunderung für den ›Führer‹ Adolf Hitler einmal abgesehen. Es gab auch keinen ausgeprägten Antisemitismus, aber eben auch keine Versuche, sich wirklich dem staatlich verordneten Rassenwahn entgegenzustemmen.« (Dezember 2007)
Was es alles nicht gegeben hat! Die Formel liegt zu weiterer Verwendung bereit. Wer es sonst noch nötig hat – Firmen, Vereine, Verlage und so weiter – kann darauf zurückgreifen. Wozu sollen »wir Deutschen« uns mehr mühen als nötig? Es wird ohnehin abgehakt.
Sigurd Schulze
Gute und wahre Schlüsse
Die Geschichte des Verschwörers Fiesco zu Genua ist überaus intrigenreich. Schiller versuchte, aus dem Renaissance-Wirrwarr ein Theaterstück zu machen, und blieb wenig erfolgreich, was seine drei Schlußfassungen zeigen. Erstens wird Fiesco vom Fundamentalisten Verrina erdolcht (Dresdner Fassung), zweitens entsagt er der durch Intrigen errungenen Herrschaft und wird redlicher Republikaner (Mannheimer Fassung), drittens ersäuft er: Der purpurne Mantel der Würde zieht ihn ins Meer hinunter (Textfassung, von Schiller letztlich autorisiert).
Wird das Schillersche Ungetüm – selten genug - auf die Bühne gebracht, spitzen die Germanisten: Welchen Schluß bietet uns die Regie? Das normale Theatervolk, das es in der Provinz noch geben soll, nimmt alles für den wahren Schiller. Am Theater der Schillerstadt Rudolstadt (»Schillers heimliche Geliebte«) brachte Regisseur Axel Richter im milden Februar 2008 alle drei Schlüsse auf die Bühne: Stop – noch einmal das Ganze, wie wir es von Film, Fernsehen und Kabarett gewöhnt sind.
Die drei Schlüsse haben für das thüringische Landestheater eine gewisse Pikanterie: Intendant Axel Vornam, der fünf Jahre lang mit viel Geschick und nicht weniger Kunstverstand die Bühne steuerte und dem es gelang, mit Hilfe lokaler Fürsten dem Dummsparen einer biederen, wenig christlichen und demokratischen Landesgroßherzoglichkeit zu widerstehen, wechselt ins Schwäbische, geht den Weg Schillers in umgekehrter Richtung. Der neue Intendant Steffen Mensching, quasi die Berliner Fassung, steht bereit. Drei Schlüsse scheint es für ihn zu geben: Das Theater wird schnell erdolcht, von einer fundamentalistischen Obrigkeit, die einer Welt aus Betriebswirtschaft und Geldgewinn huldigt; das Theater mausert sich zur wahrhaft republikanischen Einrichtung, stolzer Musentempel neben nicht weniger wichtigen Museen, Literaturhäusern und Schloßbauten, die Thüringens Attraktivität bis Genua verkünden; oder es wird, angetan mit einem Mantel von Bürokratie und Wichtigtuerei, im Meer der allgemeinen Bedeutungslosigkeit – sehr langsam und mit viel Schaum – versinken. Parkett und Ränge sind gespannt, was Regie und Statisten an Überraschungen bereithalten.
Matthias Biskupek
Walter Kaufmanns Lektüre
Sie scheinen leibhaftig aufzutreten. Man hört sie, erkennt sie: Christa Wolf, Fühmann, Kempowski, Guntram Vesper, Volker Braun, nicht zuletzt Bert Brecht und Thomas Mann. Portraits und literarische Essays in einem sind es, die Fritz J. Raddatz in Merkur, Das Plateau oder Die Zeit – für mich damals nicht greifbar – veröffentlichte, nachdem er sich gezwungen gesehen hatte, in den Westen zu gehen. Verdammt bedauerlich der Aderlaß, den die DDR schon in den frühen Fünfziger Jahren sich leisten zu können glaubte. Nun sind diese Arbeiten zwischen zwei Deckel gelangt und bei zu Klampen herausgekommen. Ein Präsent!
Die Einsichten und Folgerungen, zu denen Raddatz gelangt, sind bedenkenswert. Treffend zu zitieren versteht er allemal. Es ist, als würde einem das Gesamtwerk der Autoren nahegebracht, dessen innerster Gehalt erschlossen. Schon die Überschriften sagen viel: Brecht – »Der sozialistische Egomane«, Fühmann – »Volksgenosse, Genosse und Dissident«, Christa Wolf – »Auf der Suche nach der veränderten Zeit«, Volker Braun – »Entzweites Leben«.
Was bleibt auf knappem Raum über den Aufsatz »Das denunzierte Wort« zu sagen, das nicht schon im Untertitel anklingt: »Verbot, Verrat, Verfolgung: Wie Macht und Ideologie das Schreiben vergiftet.« Ich beschränke mich auf acht Wörter: Der Essay hat mich nachdenklich gemacht und – erschüttert,
W. K.
Fritz J. Raddatz: »Schreiben heißt, sein Herz waschen«, Verlag zu Klampen, 251 Seiten, 18 €
»In vielem ernüchtert«
– so bezeichnet sich Jurek Becker (1937–1997) in einem Interview zwei Jahre vor seinem Tod. Was hatte der Mann aber auch alles erlebt. Seine Erfahrung als Ghetto- und Lagerkind und Sohn eines Juden aus Polen, als DDR-Schriftsteller, danach bundesrepublikanischer Neubürger und Autor einer Fernseherfolgsserie, als Sozialist und schließlich Weltbürger war oft gefragt, und Beckers Antworten waren immer ganz eigen und oft unerwartet. Seine Reden, Aufsätze und Essays verfaßte er mit der gleichen Sorgfalt wie die Romane und Film-Dialoge. Da er erst spät Deutsch gelernt hatte, bewahrte er sich einen eigenen Respekt vor den Wörtern. Auch in diesen (zuweilen Auftrags-) Texten ist die Genauigkeit, mit der Becker formuliert, ein Leseerlebnis. Man darf ihn beim Denken begleiten, und auch wenn man einen Gedanken mit Widerspruch entgegennimmt, bewundert man Jurek Beckers Geradheit und Präzision. In dem Sammelband sind alle seine Auskünfte vereint: seine Stellungnahme vor der Parteiversammlung des DDR-Schriftstellerverbandes von 1976, die zum Ausschluß führte und ein Jahr darauf zum Verlassen der DDR, sein lebenslanges Nachdenken über den Vater, der so wenig von seinen Lagererlebnissen sprach und sich dennoch in der Nähe von Sachsenhausen angesiedelt hatte. Entwicklungen und Wiederholungen sind erkennbar, und deutlich wird die allmähliche tiefe Ernüchterung: Bücher verlieren für die Zeitgenossen ihren Wert, Autoren haben ihren Einfluß entweder immer überschätzt oder haben nun gar nichts mehr zu sagen, und viel Zeit ist nicht mehr bis zum Abgrund, den die Menschen selber verschulden. Je weniger Zukunft Becker sieht, desto fester klammert er sich an die Hoffnung, die er den Lesern seiner Bücher immer gespendet hat.
Christel Berger
Jurek Becker: »Mein Vater, die Deutschen und ich«, Aufsätze, Vorträge, Interviews, hg. von Christine Becker, Suhrkamp, 326 Seiten, 19.80 €
Spreeparis
Das Literaturmuseum Petöfi in Budapest untersucht in der Ausstellungsserie »Schriftsteller im Gepäck« die Beziehungen zwischen europäischen Großstädten und der ungarischen Literatur. Nach »Paris läßt nicht los« im Jahr 2004 wird die Serie mit einem bislang kaum ergründeten Thema fortgesetzt: »Unser Paris ist heute Berlin. Ungarische Schriftsteller erleben Berlin. 1900 bis 1933«. Die Ausstellung hatte ihre Premiere im März 2007 in Budapest, von Mitte November bis Januar war sie in der Berliner Botschaft der Republik Ungarn zu sehen. Geblieben ist ein illustrierter Katalog mit Essays über Béla Balázs, Tibor Déry, Lajos Hatvany László Moholy-Nagy und andere, für die Berlin ein Treffpunkt der internationalen Avantgarde war. Zu ihren Publikationsorganen gehörten Jung Ungarn, Monatsschrift für Ungarns politische, geistige und wirtschaftliche Kultur. herausgegeben von Josef Vészi, Herwarth Waldens Zeitschrift Sturm und, wenn hier auch leider nicht erwähnt, die Weltbühne. Für sie schrieben beispielsweise Hugo Ignotus, Roda Roda, Ernö Szép und der vor allem als Filmkritiker bekannt gebliebene Béla Balázs.
Der lesenswerte Katalog leistet eine gute Vorarbeit zu einer Untersuchung über die Bedeutung der Weltbühne für die Veröffentlichung der Werke ungarischer Schriftsteller in deutscher Sprache.
Das Motto für den Katalog »Unser Paris ist heute Berlin« entspringt einer Äußerung des Essayisten Aladár Komlós aus einem Beitrag von 1923, die fortgesetzt wird mit den Worten »eine Stadt, die bislang keine Rolle in der ungarischen Kulturgeschichte gespielt hat. Unsere Seine ist die Spree. Wird dieser Fluß wohl die ungarischen Felder fruchtbar machen?«
Herbert Altenburg
»Unser Paris ist heute Berlin. Ungarische Schriftsteller erleben Berlin«, Literaturmuseum Petöfi Budapest, 240 Seiten, 15 €
Die Letzte der Familie
Die 1928 geborene Brigitte Rothert, letzte Überlebende der Familie Tucholsky, hat sich wohl selbst ein gewichtiges Geburtstagsgeschenk schon vor dem 80. machen wollen. Laut Stammbaum ist sie eine Großnichte von Kurt Tucholskys Mutter Doris (1861–1943, ermordet in Theresienstadt). Über Tucho erfährt man kaum Neues, doch Erinnernswertes über dessen Rezeption, vor allem in der DDR, über Biografen, Herausgeber, Archivar und Museumsleiter, ferner Bibliotheken, Schulen, schließlich auch über das Berliner Restaurant »Tucholsky«; manches davon war schon in Ossietzky veröffentlicht.
Das Bewegende in Brigitte Rotherts Autobiographie ist das Schreckliche: die Zeit bis 1945, das Leben der verfolgten Jüdin (»Mischling ersten Grades«) in Dresden, meist in Verstecken.
Danach ein eher normales DDR-Leben – im Guten wie im Schlechten. Sie konnte sich über den damals pionierhaften Weg des »Neulehrers« ihren Lehrerwunsch erfüllen, wurde Russischlehrerin, durchreiste die UdSSR.
Bemerkenswert ihre Begegnungen mit dem Sprach- und Literaturwissenschaftler Victor Klemperer, der im selben »Judenhaus« in Dresden wie sie interniert war. Aber warum schreibt sie dessen Namen mehrmals falsch (Viktor statt Victor)? Das Gleiche tut sie mit Clara Zetkin (mal Clara, mal Klara). Bei Tucholsky/Tucholski hat sie immerhin einen Grund: den Fehler eines Standesbeamten.
Ihrer Kapitalismus-Kritik ist weitgehend zuzustimmen (so ernst wie witzig sind ihre Sprach-Glossen wie »Eine Lektion in Neudeutsch«); ihr DDR-Bild ist mir aber doch zu einschichtig. Zwar nennt Rothert gewichtige welthistorische Gründe für Probleme und Widersprüche der DDR; aber viel Unleidliches war doch hausgemacht und hatte den Eishauch Stalins noch lange an sich.
Insgesamt rundet Rothert mit ihrem Buch die Geschichte der Tucho-Familie ab – durchaus würdig des Großcousins. Man hat das gute Empfinden, sein Werk liegt in guten Händen, nicht nur bei Philologie und Kritik.
Jochanan Trilse-Finkelstein
Brigitte Rothert-Tucholsky: »Tucholskys Großkusine erinnert sich«, Thurneysser Verlag, 260 Seiten, 12.80 €
Bücher in Scheiben
»Raufgefallen« (Falling up) heißt ein Hörbuch, das mich begeistert.
Harry Rowohlt liest Shell Silverstein (US-amerikanischer Poet, Musiker und Zeichner, 1930–1999) im Wechsel von Deutsch und Englisch. Die Materie beherrscht er. Er übersetzte die Nonsens-Texte.
Da haben sich zwei kongeniale Typen gefunden: der Glatzkopf und der Struwwelpeter. Robert Gernhardt spukt zwischen drein.
Lächelnd wird man zum Lachen verführt, schmunzelnd bis überkandidelt kommen Autor und Interpret daher.
Feuerwerksfantasien stürzen auf einen nieder, mal als Rap, dann als Singsang, immer rhythmisch, musikalisch mitreißend. Rowohlt bringt seine Stimme als vielstimmiges Instrument ein, interpretiert gescheit und weise die total abgedrehten Wortkaskaden seines amerikanischen Bruders im Geiste.
Reizworte aus den Texten sprechen für sich: »Der schnelle Furz«, »Mein Nasengarten«, »Gnom, Gnu und Gnieze«.
»...garantiert ohne nennenswerten pädagogischen Nutzen«, lese ich in einer Kritik. Wirklich?
Das Sprungbrett
Du stehst auf dem Fünfmeterbrett
Und alles ist so weit ganz nett.
Das Sprungbrett ist auch nicht zu glatt,
so daß man einen Halt drauf hat.
Und was ist, wenn das Sprungbrett
bricht?
Nein, es hält spielend dein Gewicht.
Das Sprungbrett federt grade richtig,
die Hose sitzt, auch das ist wichtig.
Nur was das Sprungbrett echt nicht
bringt,
ist, daß man auch mal runterspringt.
Die Philosophie von der Geschichte: Man muß selber springen.
Anne Dessau
Heyne-Hörbuch, Aufnahme, Schnitt und Marketing Hella von der Osten, Liebhaberpreis im Internet 104,98 €
Verbieten
Autofahren ist gefährlicher
als Rauchen.
Wann wird Autofahren
verboten?
Wolfgang Bittner
Press-Kohl
Der Berliner Kurier berichtete unlängst aus Havanna, Fidel Castro habe dort Mitteilungen über seinen Gesundheitszustand gemacht. Eine solche Information findet natürlich das Interesse zahlreicher Leser.
Manche von denen wunderten sich vielleicht, daß der beliebte Politiker auch gesagt haben soll: »Viele Monate hing ich an Kathedern, durch die ich Nahrung erhielt.«
Fidel Castro war bekanntlich niemals ein sogenannter »Katheder-Sozialist«.
Nähr- und Vitalstoffe sind dem Körper des erschöpften Revolutionärs keinesfalls mit Katastern, sondern gewiß durch Katheter zugeführt worden.
*
«Nur die Tochter von ... ist Stephanie Stumpf (22)« ganz gewiß nicht. Hinter den drei geheimnisvollen Punkten verbirgt Bild am Sonntag »den berühmten Papa Wolfgang, der die Hand über seinen Liebling hält, wo er kann«. Oben, vermute ich, hält er die Hand über seinen Liebling. Die attraktive und begabte junge Dame ist übrigens auch die Tochter ihrer »Mama Christine«, aber nur der berühmte Papa begleitete sie zur Bambi-Verleihung und erklärte dem Sonntags-Blatt: »Es ist wichtiger für meine Tochter, daß sie präsentiert wird«, bei welcher Gelegenheit er sich auch mal wieder präsentieren konnte.
Das dazugehörige Foto zeigt den berühmten ..., wie er gerade einen Kloß essen will. Oder eine Kartoffel?
*
Ein anderer BamS-Schnapp-Schuß präsentiert Nicole Richie.
Nicole Richie sieht ein bißchen verschwiemelt aus.
Unterschrift: »Vollgepumpt mit Marihuana und Tabletten zog die Polizei das Partygirl aus ihrem Auto.« Gemeint ist aus seinem Auto.
Polizisten sollten sich, bevor sie Partygirls aus den Autos ziehen, besser nicht mit Marihuana und Tabletten vollpumpen.
*
»Nicht genug, daß Petra Schmidt-Schaller nach nur drei Fernsehauftritten eine anspruchsvolle Kinorolle bekam und mit Stars wie Katja Riemann und Ulrich Tukur spielen durfte. Jetzt wurde sie auch noch mit dem Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet.« Darüber freute sich die Super Illu und resümierte: »Das nennt man einen Durchmarsch.«
In Berlin, dem Erscheinungsort der Super Illu, bezeichnet dieses Wort eine besondere Verdauungsstörung.
Felix Mantel