Die Bundesregierung bleibt in der Innen- und Rechtspolitik ihrer Linie treu, sich keinen Deut um bewährte rechtsstaatliche Prinzipien zu kümmern. Jüngst mußte sich Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) heftige Kritik gefallen lassen, weil sie mit einem eigenen Gesetzentwurf die umstrittenen »Deals« in Strafverfahren abgesegnet hat. Diese vor allem bei Wirtschaftsverbrechen übliche Praxis, anstelle korrekter Strafverfolgung ein mildes Urteil zu verabreden, falls der Beschuldigte geständig ist, gilt seit langem als anrüchig. Statt diesen Absprachen einen Riegel vorzuschieben, beschloß das Kabinett am 20. Januar deren Legalisierung in einem neuen Paragraphen 257c der Strafprozeßordnung. Der rechtspolitische Sprecher der Fraktion Die Linke, der frühere Richter am Bundesgerichtshof Wolfgang Neskovic, rügte derlei Absprachen als einen »unwürdigen Handel mit der Gerechtigkeit«. Die finanziell Bessergestellten würden bevorzugt. »Der Deal führt zu einem Zweiklassenstrafrecht. Der Reiche kann sich gewissermaßen freikaufen, der Hartz-IV-Empfänger nicht.« Neskovic nannte den Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD »die Kapitulationsurkunde des Rechtsstaates«. Ähnlich äußerte sich Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: »Das Geständnis wird zur Ware, der Prozeß wird kommerzialisiert, aber dafür wird er auch kürzer. Der Staat spart Geld.« Diese »Kassenjustiz« sei zugleich auch eine »Klassenjustiz«: »Weil das Dealen eine Kunst ist, für die es besonders gute und teure Anwälte gibt, werden die Angeklagten dabei besser wegkommen, die sich diese Anwälte leisten können.« Dies sei ein »Abschied von den Prinzipien des Strafprozesses«.
Aber nicht nur im Verfahrensrecht, auch im materiellen Strafrecht wandte sich die Bundesregierung noch ein Stück weiter von rechtsstaatlichen Prinzipien ab, indem sie mit Kabinettsbeschluß vom 14. Januar ein »Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten« (GVVG) auf den Weg brachte. Mit dem altbekannten Totschlagargument des Schutzes vor terroristischer Bedrohung will sie in einem neuen Paragraph 89a des Strafgesetzbuchs ein Verhalten pönalisieren, das weit im Vorfeld konkreter Taten liegt, etwa den Aufenthalt in »Ausbildungscamps«.
Nach rechtsstaatlicher Tradition sind Taten grundsätzlich erst strafbar, wenn sie begangen worden sind, bestimmte Taten auch schon, wenn sie versucht worden sind, wobei »Versuch« als »unmittelbarer Beginn der Ausführung einer Tat« definiert ist. Vorbereitungshandlungen aber, die noch nicht zum konkreten Versuch gediehen sind, bleiben prinzipiell straflos. Damit soll vermieden werden, daß ein Gesinnungsstrafrecht aufkommt. Das Strafrecht soll als schärfste staatliche Sanktion erst bei konkreten Verletzungen von Rechtsgütern eingreifen.
An dieses Grundschema hat sich der Gesetzgeber zwar nicht immer gehalten. Vorschriften wie die berüchtigten Strafgesetzbuch-Paragraphen 129a und b stellen schon die bloße Mitgliedschaft in einer »kriminellen Vereinigung« oder einer »terroristischen Vereinigung« (neuerdings auch in ausländischen Vereinigungen) unter Strafe. Diese Vorschriften waren schon immer in der Kritik, weil sie zur uferlosen Kriminalisierung von Menschen führen können, denen eigentlich nichts nachzuweisen ist. Sie sind typischer Ausdruck einer politischen Strafjustiz, denn sie lassen sich bequem gegen politisch mißliebige Gruppen einsetzen.
Trotz dieser gesetzgeberischen Sündenfälle gilt aber immer noch das rechtsstaatliche Prinzip der Straflosigkeit von Handlungen im Vorfeld von Straftaten – auch wenn Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) es schon lange bekämpft. Beispielsweise nahm Schäuble den Vorwurf gegen zwei Libanesen, sie hätten im Kölner Hauptbahnhof Anschläge mit Kofferbomben verüben wollen, zum Anlaß, den Begriff der terroristischen Vereinigung neu zu definieren. Da man keinen dritten Verdächtigen ausfindig machen konnte, wollte Schäuble die »Vereinigung« bereits bei zwei Mitgliedern beginnen lassen; die Rechtsprechung fordert für dieses Tatbestandsmerkmal bisher mindestens drei Personen.
Schäubles Vorstoß führte Anfang 2008 zu einem Gesetzentwurf des Bundesrats (»Gesetz zur Bekämpfung des Aufenthalts in terroristischen Ausbildungslagern«), auch mit der Absicht, Zypries in Zugzwang zu bringen. Wie gewünscht fiel die Justizministerin wieder einmal um. Die SPD stimmte zwar nicht dem Bundesratsentwurf zu, gab aber innerhalb der Bundesregierung nach und einigte sich mit der CDU/CSU auf die Änderung des § 89a StGB.
Die große Koalition hat es nun sehr eilig, dieses Machwerk durch das Parlament zu bringen. Schon am 29. Januar 2009 fand die erste Lesung im Bundestag statt. In einer Pressemitteilung hatte das Bundesjustizministerium zuvor unumwunden eingeräumt, daß künftig auch bestimmte Vorbereitungshandlungen unter Strafe stehen sollen. Zur Begründung sagte Zypries, die Paragraphen 129a und b StGB reichten nicht mehr aus, da islamistische Täter nicht selten »ohne feste Einbindung in eine hierarchisch aufgebaute Gruppe« in nur »losen Netzwerken« oder allein agierten und die Bestimmungen über kriminelle oder terroristische Vereinigungen dann nicht anwendbar seien. Daher müsse künftig ein neuer § 89a schon für die Vorbereitung einer »schweren staatsgefährdenden Gewalttat« Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und zehn Jahren androhen. Dann würden sich auch die (Einzel-)Täter strafbar machen, deren Handlungen nicht als Verbrechensverabredung dem Paragraphen 30 Abs. 2 StGB unterfallen.
Im Einzelnen erklärt der neue § 89a laut Bundesjustizministerium folgende Vorbereitungshandlungen für strafbar: die Ausbildung und das Sich-Ausbilden-Lassen, um eine schwere staatsgefährdende Gewalttat begehen zu können (als Beispiel nennt das Ministerium außer dem Aufenthalt in einem »Ausbildungslager im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet« auch den Fall, daß jemand Unterricht in einer Flugschule nimmt, um ein Passagierflugzeug kapern zu können); die Herstellung, das Sich-Verschaffen, Überlassen oder Verwahren von bestimmten Waffen, bestimmten Stoffen (darunter Viren, Giften, radioaktiven Stoffen, Flüssig-Sprengstoffen) oder besonderen zur Tat erforderlichen Vorrichtungen (zum Beispiel Zündern); das Sich-Verschaffen oder Verwahren von wesentlichen Gegenständen oder »Grundstoffen« zur Herstellung dieser Waffen, Stoffe oder Vorrichtungen; die Finanzierung eines Anschlags, auch schon das Sammeln von Spenden.
Noch weiter ins Vorfeld reicht eine neue Bestimmung in § 89b StGB, nach der mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden soll, wer in der Absicht, sich in der Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat unterweisen zu lassen, Beziehungen zu einer terroristischen Vereinigung aufnimmt. Schließlich wird in § 91 StGB die Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat pönalisiert, wobei sich schon derjenige strafbar machen würde, der sich in dieser Absicht eine solche Anleitung verschafft, indem er sie beispielsweise aus dem Internet herunterlädt.
Diese neuen Tatbestände im Strafgesetzbuch werden durch Verschärfungen im Verfahrensrecht ergänzt. Die Strafverfolgungsbehörden werden auch für die in § 89a genannten Fälle zur Wohnraum- und Telefonüberwachung ermächtigt. Und selbstverständlich haben Zypries und Schäuble nicht vergessen, bei dieser Gelegenheit mal wieder die aufenthaltsrechtlichen Regelungen zu verschärfen. Eingeführt wird ein neuer »Regelausweisungstatbestand« für Verdächtige, denen die Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten zur Last gelegt wird.
Zypries sagte selbst, das Vorhaben sei »verfassungsrechtlich nicht unumstritten«. Grundidee des Strafrechts sei ja eigentlich, den Täter für etwas zu bestrafen, was er bereits getan habe. »Nun aber wird jemand schon dafür bestraft, daß er Kontakt zu einer Terrorgruppe aufnimmt oder sich im Umgang mit bestimmten Waffen oder Stoffen schulen läßt. Wir bewegen uns damit sehr weit im Vorfeld einer Tat«, gab die Ministerin zu; man betrete »juristisches Neuland«.
Genau daran knüpfte die Kritik der Opposition an. Die Fraktion Die Linke im Bundestag griff die Wortwahl der Ministerin auf, kam aber zu einer völlig anderen Schlußfolgerung. In einer Pressemitteilung hieß es: »Brigitte Zypries irrt: Die Große Koalition betritt mit dem Gesetzentwurf zur Strafbarkeit von Besuchen so genannter Terrorcamps kein ›juristisches Neuland‹ – sie verläßt schlicht die Grundlagen des Rechtsstaates. Wenn man nicht mehr eine konkrete Straftat verfolge, sondern bereits die Gesinnung, die zu einer solchen Tat führen könne, öffne man der Verfolgung politisch mißliebiger Personen Tür und Tor. »Wie diese Gesinnung nachzuweisen ist, bleibt das große Geheimnis der Gedankenleser im Bundeskabinett«, warnte die Linksfraktion. Diese Terrorparagraphen müßten abgeschafft, nicht ausgeweitet werden.
Unter dem Titel »Gefährliche Entgrenzung« konstatierte der Bürgerrechtler Rolf Gössner in einem Rundfunkkommentar ein weiteres Drehen »an der Aufrüstungsspirale«. Hier werde ein neues »uferloses Antiterrorsystem aufgebaut – parallel zu dem berühmt-berüchtigten Paragraphen 129a Strafgesetzbuch«. Gössner warf die Frage auf: »Wie will man beweisen, daß jemand in einem Trainingslager zum Terroristen umgeschult und tatsächlich ein solcher geworden ist?« Man habe es mit einem »Gefährdungsdelikt ohne konkreten Tatbezug weit im Vorfeld des Verdachts« zu tun. Das sei eine »unverhältnismäßige und gefährliche Entgrenzung des herkömmlichen Tatstrafrechts«, sagte Gössner. »Und aufgrund welcher Erkenntnisse soll etwa die Art des Kontakts, des Camps und der Fortbildung beurteilt werden? Will man sich dann etwa auf dubiose Erkenntnisse von Geheimdiensten verlassen oder auf Aussagen, die im Ausland unter Folter zustande gekommen sind? Auch das wäre mit rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards nicht zu vereinbaren.«
Da die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD als Korrektiv der zügellosen Bundesregierung ausfallen, bleibt wieder nur die Hoffnung auf die veränderten Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Die Koalition hat dort seit der Hessen-Wahl keine eigene Mehrheit mehr. Eine Schlüsselrolle kommt der FDP zu, seit sie in mehreren Flächenstaaten mitregiert, vorausgesetzt daß auch die Länder mit Regierungsbeteiligung der Linken und Grünen die Zustimmung verweigern. Ob auf die FDP Verlaß ist, erscheint jedoch zweifelhaft. In den Bundesländern gehen die Liberalen oft nicht mit ihren Rechts- und Innenpolitikern im Bundestag konform. So hat die nordrhein-westfälische FDP ein Gesetz zur heimlichen Online-Durchsuchung initiiert, das vom Bundesverfassungsgericht verworfen wurde. In Niedersachsen war die FDP für die verfassungswidrige Einführung des automatisierten massenhaften Autokennzeichen-Abgleichs sowie für das von den Karlsruher Richtern aufgehobene Gesetz zur vorbeugenden Telefonüberwachung mitverantwortlich. Man sollte also eher nicht damit rechnen, daß sich die Liberalen im Bundesrat bei der Abwehr der verschärften Strafvorschriften als zuverlässige Verbündete der Bürgerrechtler erweisen werden. Und dann wird sich am Ende wieder einmal Schäuble durchsetzen, weil die SPD in der großen Koalition dem Abbau von Bürgerrechten nicht entschieden entgegentritt, sondern vor allem die Justizministerin ihre Rolle als Widerpart des Innenministers verfehlt.