Einen »wirklichen Neuanfang« nannte der deutsche Außenminister das Ergebnis der Londoner Afghanistan-Konferenz; die dort versammelte »Internationale Gemeinschaft« habe beherzigt, daß Sicherheit und Frieden am Hindukusch nicht allein mit militärischen Mitteln erreicht werden könnten. Das klang so, als werde Afghanistan nun nach einer besseren, einer Westerwelle-Methode behandelt und als könne die des kriegerischen Engagements überdrüssige Bevölkerung in der Bundesrepublik und in anderen zur »Achse des Guten« gehörenden Staaten endlich mit dem Ausstieg aus diesem Krieg rechnen, wenn auch, wie es in der Politikersprache heißt, in einem Geduld erheischenden »Zeitkorridor«.
Ernüchterung angesichts der Ergebnisse des nun schon mehr als acht Jahre dauernden kriegerischen Zugriffs auf Afghanistan hat längst auch bei denjenigen um sich gegriffen, die prinzipiell keine Bedenken gegenüber militärischer Gewalt zur Durchsetzung geopolitischer Interessen haben. Um einen prominenten Kommentator aus der Bundesrepublik zu zitieren: »Vom Endsieg am Hindukusch träumt keiner mehr, so das je einer tat. Auch jene, die die Menschenrechte nicht in Knobelbechern, sondern in Jesus-Latschen dorthin tragen wollten, backen nur noch kleine Brötchen. Das Kriegsziel der ›Westminster-Demokratie‹ ist aufgegeben ... Die ›Friedenspartei‹ SPD würde sich lieber heute als morgen von ihrer Afghanistan-Vergangenheit befreien und den Termin verkünden, an dem der letzte deutsche Soldat abzieht ...« So Berthold Kohler, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen.
Also Einstieg in den Ausstieg? Keineswegs. In Wahrheit ziehen weitere Soldaten nach Afghanistan, allein aus den USA an die 30.000, aus der Bundesrepublik vermutlich 850. Selbstverständlich werden sie sich dort nicht nur damit beschäftigen, die auf ein Plansoll von 300.000 Mann angesetzten Militär- und Polizeieinheiten des Präsidenten Hamid Karsai zu trainieren. Vielmehr sollen sie mit der Gewalt der Waffen die Überlegenheit der Interventionsstaaten demonstrieren, vor allem die der USA. Solche Machtdemonstration kostet Menschenopfer – auf der eignen Seite und weitaus mehr noch auf der Seite der Einheimischen. Sie bringt Verwüstungen mit sich, die jahrzehntelang nachwirken werden: »verbrannte Erde«. Und sie steigert den Haß auf die Eindringlinge. Politiker, wenn sie einigermaßen bei Verstand sind, wissen das, aber sie nehmen es in Kauf, mit frommem Blick darüber hinwegredend.
Zu welchem Zweck? Schon vor den beiden Weltkriegen wurde Afghanistan zu einem Objekt der Begierde externer Mächte, und das ist es seitdem geblieben. Auch das Deutsche Reich versuchte im ersten wie im zweiten Weltkrieg, hier mitzumischen. Das Terrain ist begehrt als geostrategische Kontrollstation im Großen Spiel um die ökonomische und politische Herrschaft in Vorder- und Zentralasien, um die Ausbeutung von Ressourcen und die Macht über Transportlinien. Das Land selbst ist arm, aber seine Lage ist interessant für Global Player.
Die USA hatten Afghanistan aufs Korn genommen, schon bevor ihnen der 11. September 2001 dafür einen Vorwand bot; in der Rivalität mit der UdSSR züchteten sie hier jenen »Fundamentalismus« und »Terrorismus« heran, dem sie später den Krieg erklärten. Die UdSSR geriet in Afghanistan in ein Desaster, das ihren Zerfall einleitete. Möglicherweise hatte man in Washington die Hoffnung, im besetzten Afghanistan eine zuverlässige Satrapie heranbilden zu können, »Nation building« spezieller Art also. Aber das ist nicht gelungen und auch weiterhin nicht zu erwarten, das Regime Karsai ist nur eine kaum funktionsfähige Verlegenheitslösung. Ein korrupter Präsident wird der Korruption kein Ende machen. Unabhängige Hilfsorganisationen werden es bei Eskalation der Militärschläge noch schwerer haben als bisher – wie also soll sich eine »Zivilgesellschaft« entwickeln? Auch dies ist den Interventionspolitikern, wenn sie halbwegs informiert sind, durchaus klar; insofern war die Londoner Konferenz ein Schmierentheater. Also nochmals gefragt: Einstieg in den Ausstieg?
Der »Zeitkorridor« für den Abzug des Militärs – wann soll er beginnen? Die Parteien in der Bundesrepublik bringen, um dem Publikum etwas zu bieten, Termine ins Gespräch: 2011, 2013 – oder vielleicht leider doch erst 2015? Die Kanzlerin sagt, datieren könne man das nicht. Hamid Karsai spricht von 15 Jahren, die er noch brauche (und dazu auch ausländisches Militär), um die Ergebnisse der Intervention zu sichern. Der Mann hat schwarzen Humor – er wird den Zeitraum berechnet haben, den er zur weiteren Vermögensbildung noch benötigt, um sich dann zufrieden in Sicherheit bringen zu können.
Wird sich ansonsten die ganze Operation Hindukusch am Ende als ineffizient für ihre Betreiber herausstellen, als ein Gemetzel, von dem man nachher nicht mehr weiß, wozu es eigentlich stattfand? Dieser gedankliche Schluß wäre vorschnell. Es kann sein, daß die USA in absehbarer Zeit die Truppenstärke in Afghanistan reduzieren und ihre Verbündeten sich dem anschließen. Zurück bliebe dann ein verwüstetes Land, eine »gescheiterte« politische Gesellschaft. Aber auch ein US-amerikanischer militärischer Brückenkopf. Und die Gewißheit der US-amerikanischen Machteliten, daß ihnen ein handlungsfähiges afghanisches Staatswesen nicht in die Quere kommen kann. Außerdem die demonstrative »Lehre«, daß die militärische Macht der USA immerhin dazu reicht, quertreibende Länder zu zerstören. Sowie die warnende Erfahrung der Bundesgenossen, daß sie gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Und schließlich blieben die üppigen Gewinne, die diverse Rüstungs- und sogenannte Sicherheitsunternehmen, nicht nur in den USA, aus dem langen Krieg ziehen konnten. Je länger, desto besser für sie.