Natürlich war es Mord. Massenmord. Aber Oberst Georg Klein, der das Massaker am 4. September kommandierte, befindet sich fünf Monate danach noch immer auf freiem Fuß. Keiner hat den Versuch unternommen, ihn festzunehmen. Niemand hat ihn vom Dienst bei der Bundeswehr suspendiert. Und »unsere Soldatinnen und Soldaten« – wie man das zu nennen hat – stehen wie eine Männin und ein Mann hinter ihrem Obersten.
Die Bundeskanzlerin hat sofort nach dem Massaker wie Wilhelm Zwo in seiner Hunnenrede zur vorletzten Jahrhundertwende jegliche Kritik am Massenmord untersagt (»Ich verbitte mir das, und zwar von wem auch immer im In- und im Ausland«). Sechs Wochen nach der Tat drohte die Bundesregierung dem NATO-Oberkommandierenden in Europa, Admiral James G. Stavridis, bei seinem Besuch in Berlin, daß eine deutliche Verurteilung des deutschen Obersten durch die NATO in Deutschland zu »juristischen Problemen« führen würde.
Mörder genießen in diesem Staat nahezu jeglichen Schutz, wenn sie ihre Tat in Uniform begehen. Das hat Tradition. Auf die Idee, daß der Westberliner Polizeibeamte Kurras einen Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg – auch der kein Taliban – begangen haben könnte, ist dieser Staat erst vier Jahrzehnte danach gekommen: nachdem sich herausgestellt hatte, daß Kurras für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit arbeitete.
Die beiden am Massaker von Kundus beteiligten US-Piloten sind nach Informationen der Süddeutschen Zeitung wenige Tage nach der Vernichtung von bis zu 142 afghanischer Menschenleben abberufen und strafversetzt worden. Zu Recht. Sie hatten trotz schwerer Bedenken letztlich den Befehl des Obersten Klein ausgeführt.
Zugleich – Mitte Januar – meldete die SZ: »Unterdessen zeichnet sich ab, daß die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe kein Verfahren gegen Klein einleiten wird. Nach Informationen von mittelbar an dem Vorgang beteiligten Parteien wird die Staatsanwaltschaft in den kommenden Wochen die Ermittlungen einstellen und sich dabei auf das Völkerrecht stützen.«
Völkerrecht. Auf das, was die Bundesanwaltschaft da ausbaldowert, darf die ganze Welt gespannt sein. Vielleicht berufen sie sich auf den bewährten deutschen Rechtsgrundsatz, der im Einstellungsbeschluß des Verfahrens gegen den Mörder der Kinder vom Bullenhuser Damm, SS-Offizier Arnold Strippel, steht: Den kurz vor Einmarsch der Alliierten aufgehängten jüdischen Kindern sei »über die Wegnahme ihres Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden« und sie hätten auch »nicht besonders lange körperlich und seelisch zu leiden gehabt«. Strippel erhielt 1971 eine Haftentschädigung in Höhe von 121.447,92 DM. Rücksicht auf den zerrütteten Staatshaushalt könnte also der Grund sein, warum man im Fall Klein von einer Festnahme abgesehen hat. Und unsere gegenüber gewöhnlichen Zivilpersonen sehr tatkräftige Generalbundesanwältin ist selbstverständlich gehemmt, wenn sich ihr beachtlicher Verfolgungsdrang gegen Militärs richten müßte, etwa gar so hochrangige wie den Obersten Klein.
Kurt Tucholsky und Martin Niemöller waren Soldaten im ersten Weltkrieg. Tucholsky erkannte: »Soldaten sind Mörder«, und Niemöller begleitete die Remilitarisierung der Bundesrepublik mit der Einsicht: »Und damit ist heute die Ausbildung zum Soldaten die Hohe Schule für Berufsverbrecher. Mütter und Väter sollen wissen, was sie tun, wenn sie ihren Sohn Soldat werden lassen. Sie lassen ihn zum Verbrecher ausbilden.«
Was sich die Mutter und der Vater des Obersten Klein dachten, wissen wir nicht. Wir dürfen aber ahnen, was Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg meinte, als er sagte, sein Oberst habe »zweifellos nach bestem Wissen und Gewissen« gehandelt. Denn der Oberst wurde bei der Bundeswehr zum Soldaten ausgebildet.
Wir wissen, daß Soldaten, soweit sie der Bundeswehr angehören, gesetzlich geschützt sind und nicht als Mörder bezeichnet werden dürfen. Wir dürfen also den wahren Beruf des Obersten Klein nicht nennen. Er kann kein Mörder sein. Jede andere Interpretation unterläge jener Strafverfolgung, der dieser Oberst offensichtlich nicht unterliegt.