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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Peter Stein, einst künstlerischer Leiter der damals avantgardistischen Berliner Schaubühne, bringt Heinrich von Kleists »Zerbrochenen Krug« nun auf die Bühne des Berliner Ensembles, auf der Bert Brecht das Welttheater revolutioniert hatte – eine denkwürdige Verknüpfung der beiden wichtigsten Stränge des Berliner Theaters nach 1945. Klaus Maria Brandauer gibt den Adam, Martin Seifert den Gerichtsrat Walter, Tina Engel die Marthe und Ilse Ritter die Brigitte. Was wollen sie heute mit diesem Stück sichtbar machen? Sie zeigen uns die Niederlande des 17. Jahrhunderts, das Dorf des Richters Adam, die Stadt Utrecht. Flämische Maler wie David Teniers und Jean Jacques Le Veau haben Regisseur Stein und seinen Bühnenbauer Ferdinand Wögerbauer für ihren szenischen Raum angeregt – und die Handlung hat ihren Platz. Endlich einmal wieder! Und es stimmen die Figuren, es stimmt die Dialektik; wir sehen jenes im Vergleich zum Preußen vor 1806 (also vor der Niederlage gegen Napoleons Heer, vor den Reformen) fortschrittlichere Land mit seinen neuen Widersprüchen ewiger Land- und Profitnahme, ständiger Kolonialkriege, aber auch neuer Gesetzlichkeit, neuer Sitten. Eve Rull trägt die neuen Hoffnungen (Marina Senckel), Marthe (Tina Engel) vertritt sie mit Kraft, was man von Senckels Eve nicht mit der gleichen Bestimmtheit sagen kann. Die Widersprüche werden auch sichtbar in Brandauers Adam: verrotteter Amtsträger und lustvoller Schelm in einem, ein verführter, verdorbener, doch auch gefährdeter Mensch (Adam hebr. Mensch!), dem man nicht eigentlich böse sein kann. Doch die Rettungsversuche des Gerichtsrats Walter sind weniger humanitär als eher amts- und klassenbeflissen. Brandauer spielt mit Spaß den Filou – mir gefiel er hier besser als mit seinem Wallenstein. Seine szenische Erhebung im Finale macht den Eindruck des Unwirklichen und soll es wohl auch.

Volles Haus, viel Applaus in einer Repertoire-Vorstellung – man spielt eben gutes Theater am Schiffbauerdamm! Und wenn das nach Ansicht einiger junger Kritiker-Spunte »Altherrentheater« sein soll – warum nicht? Warum sollen alte Herren kein gutes Theater machen?

Unsere nächste Aufführung, diesmal in der Schaubühne: »Berlin Alexanderplatz«, untertitelt »Eine freie Bühnenbearbeitung des Romans von Alfred Döblin von Volker Lösch und dem Ensemble« – auf einer streng gehaltenen Szene von Carola Reuter. Döblins fast 500 Seiten umfassende Geschichte des Franz Biberkopf, eines entlassenen Strafgefangenen, der beinahe wieder strauchelt, aber auf eine halbpraktikable Weise (als Hilfsportier) wie auf eine halbmythische Weise einen Weg in eine »Freiheit« oder in den Tod auf dem Schlachtfeld findet, hat Dramatisches in sich und fand daher schon manche szenischen Bearbeitungen. Döblin selbst verfaßte eine Hörspielfassung. Die Schaubühne benötigt vier professionelle Schauspieler für ihre Fassung: Sebastian Nakajew als Biberkopf – richtig besetzt, aber warum schreit er so? –, Eva Meckbach als Prostituierte, Minnas, Cilly und Mieze, David Ruland als Freund wie Gegenspieler Reinhold, Felix Römer als Karl und Bandenführer Pums. Alle weiteren 21 Mitspieler sind Laien. Das Besondere dabei: Sie waren wegen ähnlicher Delikte strafgefangen. Nun, als Freigelassene, waren – oder wären – sie in Biberkopfs Lage gekommen, das heißt eine Einordnung in eine heutige Gesellschaft wäre für sie sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gewesen. Wie bei Fallada »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt«. Die Profitgesellschaft hat nur noch wenig Platz, gewinnt ihren Mehrwert aus der Kraft moderner Maschinen und rationalisierter Produktionsabläufe wie der Einschränkung von Sozialabgaben und stößt immer mehr Menschen ab.

Mit diesen 21 »Freien« leistet die Schaubühne etwas Außerordentliches: Sie läßt sie 21 künstlerisch arbeiten, entreißt sie dem Biberkopf-Dasein, läßt sie Chortragödie spielen und hilft ihnen sozial. Da sie das öffentlich vorführt, gibt sie ein soziales Beispiel, gar Vorbild. Doch sie tut noch mehr. Sie zeigt, was Kunst kann, denn »Der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit« (Karl Marx 1844). Diese Spieler werden sicher nie wieder verächtlich über Kunst reden, werden erkennen oder haben erkannt, daß ästhetische Vergegenständlichung ein Teil ihres Lebens, eines gesellschaftlichen Lebens ist. So ist ein Roman zu einem Stück aufklärerischen, ja eingreifenden antikapitalistischen Theaters geworden: episches Spiel, das letztlich gut ausgeht, Hoffnung zuläßt, gesellschaftliche Veränderung denkbar macht.

Nur: Warum so laut?