Die berühmtesten Abwandlungen eines vorgegebenen Themas in der Geschichte der Musik, genauer gesagt der Klaviermusik, sind nach Kenner-Meinung Bachs Goldberg-Variationen und Beethovens Diabelli-Variationen. Die Bezeichnung Variationen stammt nicht von den Komponisten, sondern von Musikverlegern oder Konzertagenten, die wußten, daß man in aller Welt weiß, was Variationen sind, so daß der deutsche Ausdruck »Veränderungen« nicht übersetzt werden muß.
Bach bezeichnete seine Arbeit als »aria mit 30 Veränderungen (Klavierübung Teil IV)«. Sein Förderer, der Baron von Keyserlingk, widmete seine Fürsorge einem Knaben namens Johann Gottlieb Goldberg (1727–1756), nach dem die Veränderungen benannt wurden. Als ein eigenwilliger kanadischer Pianist die Bachschen Veränderungen 1955 in einem New Yorker Platten-Studio aufnahm, wurde er durch die Schallplatte »mit einem Schlage weltberühmt« (Hans-Joachim Schulze). Der Künstler, nomen et omen, hieß Glenn Gould.
Johann Sebastian Bach ist, glaube ich, im Renaissance-Theater (Berlin-Charlottenburg, Knesebeckstraße 100) noch nicht aufgetreten, aber man hört dort neuerdings »33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli, op. 120« von Ludwig van Beethoven. Ziemlich laut – wie vieles von diesem Großmeister meistens begriffen und gespielt wird, den Gott zu einem genialen Tonkünstler machte und dem er später das Gehör zerstörte. Wie Götter manchmal so sind.
Im gepflegten und erfolgreichen Art-deco-Theater des Intendanten Horst-H. Filohn pflegt man bekanntlich die sogenannte gehobene Unterhaltung, Spaß wird nur selten mit Klamauk verwechselt, Mondänes wird nicht ernst genommen und, falls unvermeidlich, würzig ironisiert. Das Stück »33 Variationen« von Moisés Kaufman (geb. 1963 in Caracas, Venezuela) rankt sich um die Entstehung der Diabelli-Variationen – eine Art von dramaturgischem Efeu. Neben Beethoven, seinem Sekretär Schindler, dem Musikverleger und -lehrer Diabelli, allesamt dargestellt in historischen Kostümen und Haltungen, bevölkern Menschen aus unserer Zeit die enge Bühne. Die Verbindung zwischen Damals und Heute wird, falls ich’s richtig verstanden haben, durch die aktuell-modischen Hosenträger des historischen Herrn van Beethoven symbolisiert.
Rosel Zech erleben wir als heutige Musikforscherin Dr. Brandt, die den Diabelli-Veränderungen auf der Spur ist und an einer Krankheit leidet, der Musikforscherinnen ausgesetzt sind, wenn sie zu intensiv forschen. Am Ende verliert Dr. Brandt die Sprache, und Frau Zech muß überflüssigerweise lallen, was weder mit Beethoven noch mit Diabelli etwas zu tun hat. Ein gesundes junges Pärchen (Anne Berg und Simon Zigan) bringt Frischluft ins Ranken-Treibhaus.
Ralph Morgenstern zeichnet den Diabelli genau und grotesk (wie eine E. T. A. Hoffmann-Figur). Robert Galinowski präsentiert sich in der Doppelrolle als Komponist und Sekretär glänzend – eine Meisterleistung, von der Frau Bazinger (Berliner Zeitung, 29.1.10) aber findet, dieser Schauspieler setze auf »hanswurstigen Volltrash«, was immer sie damit sagen will. Sie behauptet auch, daß »der Hausregisseur Torsten Fischer hier alle Stücke regelmäßig einschläfert« – geschnarchter Quatsch.
Musikalische Leitung und erstklassige Pianistin: Soo Jin Anjou. In unseren vier Wänden genossen wir nachher eine kräftig-kritische Aufnahme des Diabellikums, gespielt von einem Mann, der 1942 in Buenos Aires zur Welt kam und schon lange in Berlin lebt und wirkt. Bravo, Daniel Barenboim.