Gute Namenswahl
Laut Visitenkarte, die er freigiebig verteilt, steht ein »Kolumbus der Innenwelt« vor uns. Diplom-Psychologe mit Kassenzulassung. Ein ehrlicher Mann, wenigstens das. Denn nichts symbolisiert das zweifelhafte Gewerbe der Seelenklempnerei besser als ein vom Indienkurs abgekommener Irrfahrer, ein Geistersegler und Trunkenbold, der die Pest an Bord hatte und sein Überleben einzig und allein einem bis dahin unbekannten Kontinent verdankt, der ihn zufällig, aber noch rechtzeitig entdeckte. Daß Kolumbus seine Rettung durch Amerika als eigene Entdeckung ausgab, macht ihn zu einem idealen Säulenheiligen für die Zunft der Psychologen: Man stellt die Verhältnisse auf den Kopf, nennt es Therapie, daran zu glauben, und lebt von den Mühseligen und Beladenen, die viel Geld auf den Tisch legen, um auf diese Weise gerettet zu werden.
Für den kleinen Hunger nach Sinn
Werner hatte weder einen aufregenden Beruf, Versicherungsbranche, noch ein aufregendes Hobby, er hielt sich ein halbes Dutzend Ziervögel. An manchen Tagen kam er sich ungefähr so wichtig vor wie ein Kolibri-Ei, das aus dem Nest gefallen ist. Zufällig stieß Werner im Gratisblättchen auf eine Anzeige des örtlichen Freiwilligenzentrums: »Sie können etwas? Sie suchen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung? Hier werden Sie gebraucht!« Werner fühlte sich angesprochen. Man suchte Freiwillige, die einen Teil ihrer Freizeit mit hilfsbedürftigen Menschen verbringen. Werner meldete sich und füllte die Rubrik »Ich habe folgende Fähigkeiten, die ich einsetzen möchte« mit dem Angebot aus: »Vogelkäfige reinigen mit Senioren (und darüber sprechen)«. Neugierig, was andere Ehrenamtler vor ihm geschrieben hatten, blätterte Werner in den Unterlagen. »Laubsägearbeiten mit Behinderten«. »Aufsicht führen in Kindergottesdiensten«. »Butterbrote schmieren bei Blutspendeterminen«. Werner lächelte in sich hinein. Er gehörte jetzt zu denen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Er war jetzt ein »Gutmensch«, wie die modernen Hochleistungssklaven, Powermännchen und Powerfrauchen, abschätzig sagen. Werner fühlte sich wohl.
Blind Date
Die Boulevardzeitung gibt dem »Intimreport« über das Rheinische Wohnheim für Sehbehinderte die Balkenüberschrift: »Blinde machen Liebe«. Drei Wörter, die an ein altes Sprichwort erinnern. Aber sie besitzen nicht den Glanz und die ewige Wahrheit des Sprichwortes. Im Gegenteil. Die Überschrift wirkt billig, effekthascherisch, eine Einladung an verklemmte Spanner: »Blinde machen Liebe«. Da man sich im Wahlkampf befindet, ist nicht auszuschließen, daß Inhaber hoher politischer Ämter das nunmehr in die Schlagzeilen geratene Wohnheim aufsuchen werden – allein zu dem Zweck, um öffentlich zu »menscheln«, wie es ihre Berater empfehlen, die sich »spin doctors« nennen. Das bringt Pluspunkte in der Wählergunst, meinen die promovierten Spinner. Nicht auszuschließen also, daß demoskopiehörige Populisten den Herzjesudemokraten herauskehren und sich für eine halbe Stunde in einen abgedunkelten Raum einsperren lassen, »um unseren blinden Mitbürgerinnen und Mitbürgern einmal so richtig nahe sein zu können«, wie ihre Berater sie sagen lassen. Bilder aus der Dunkelkammer gibt es nicht. »Intimsphäre!« Dafür fängt die Kamera den Augenblick der Benommenheit ein, wenn der Politiker wieder ins grelle Tageslicht tritt. Die an-schließenden Medienberichte triefen vor Rührseligkeit. Keiner unter den Journalisten, der Mumm genug hätte, um dem Blind Date einen ganz unsentimentalen Ausdruck zu verleihen:
»Macht liebt Blinde.«
Dilemma des Protests
Wie nennt der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sein Land mit vielen Millionen Arbeitslosen?
»Kollektiver Freizeitpark«.
Wie nennt der Boß der größten deutschen Bank den Verlust von vielen Millionen Euros? »Peanuts«.
Wie nennt der mächtige Sparkassenverband die Armen im Lande, also Bürger mit einem geringen Einkommen?
»Biomüll«.
Wie nennt derselbe Verband die Maßnahme, die Armen im Lande von der Eröffnung eines Giro-Kontos abzuhalten?
»Schalterhygiene«.
Wie entmutigend muß es für die Jugend sein, die mit ihrem Jargon provozieren und die Erwachsenen vor den Kopf stoßen will, wenn ihr Wort für ältere Semester von allen Seiten als warmherzig und einfühlsam begrüßt wird: »Friedhofsgemüse«.
Unbehagen in der Emanzipation
Emanzipierte Frauen sind widerspenstige Frauen. Sie widersetzen sich dem Willen ihrer engstirnigen Männer. Früher, als man sich des Sexismus in der Sprache noch nicht so bewußt war wie heute, hätte man gesagt: Sie löcken wider den Stachel. Emanzipierte Männer hingegen sind angepaßte Männer. Sie folgen dem Willen ihrer fortschrittlichen Frauen. Der Gehorsam des Mannes gegenüber dem Fortschritt gilt geradezu als Nachweis seiner Emanzipation. Konservative Geister sehen das anders. Der Emanze, sagen sie, ist das Produkt der physischen und mentalen Erschöpfung des einstmals starken Geschlechts. Ulf-Kevin ist ein emanzipierter Mann, wie er im Buche Emma steht. Nebenbei bemerkt: Nur aufgeklärte Eltern, die einen aufgeschlossenen Jungen erwarten und keinen tumben Macho, nennen ihr Neugeborenes Ulf-Kevin. Andernfalls hätten sie sich für Adolf oder Baldur entschieden. Aber zurück zu »Ulfke«, wie die Freunde ihn rufen. Auch dann, wenn er sich unbeobachtet fühlt und eigentlich tun und lassen könnte, was er will, ohne irgendetwas befürchten zu müssen, hockt sich Ulf-Kevin brav auf die Schüssel und pinkelt im Sitzen. Allerdings daneben.