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Titel0311

Vorfreude auf das nächste Jubiläum  (Ralph Hartmann)

Deutschland kann aufatmen. Es hat, so die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache, »die schwerste Krise seit über 60 Jahren ... wie kaum ein anderes Land gemeistert«, ja, »wir sind sogar gestärkt aus der Krise herausgekommen«. Der Aufschwung ist in vollem Gange. Laut unserem Wirtschaftszaubermeister Brüderle hat er sogar »XXL-Maße« angenommen. In den Medien kann er verfolgt werden, auch in der Berliner Zeitung. Schon eine kleine Auswahl jüngster Schlagzeilen des hauptstädtischen Blattes macht ihn anschaulich:
»Gute Aussichten für Aktionäre. Die Unternehmen verdienen blendend«; »Stromkonzerne kassieren unberechtigte Gewinne. Studie beziffert den Betrag auf zwei Milliarden Euro«; »Investoren können gut verdienen. Im Tiergarten steigen Wohnungsmieten um bis zu 60 Prozent«; »Mieterhöhungen um 67 Prozent. Die landeseigene Howoge kündigt ihren Mietern in Buch erneut eine teure Modernisierung an«; »Auf Lebenszeit: 560.000 Euro im Jahr. Infineon einigt sich mit früherem Chef Schumacher«; »Ungerechtes Deutschland. Die Bundesrepublik liegt im OECD-Vergleich zur sozialen Gerechtigkeit lediglich im Mittelfeld. Vor allem die Kinderarmut ist hierzulande hoch«; »Wenn der letzte Zug abgefahren ist. Die BVG öffnet in kalten Nächten drei Stationen für alle, die keine andere Bleibe haben«; »Man wird behandelt wie ein Mensch zweiter Klasse. Leben mit Hartz IV«; »Der Wandel à la Berlin bedroht den sozialen Zusammenhalt der Stadt. Seit Jahren gibt es faktisch keinen sozialen Wohnungsbau mehr, stattdessen elitäre Townhouses und höchstpreisige Apartmentbauten«; »Die S-Bahn kapituliert. Keine Besserung in Sicht.«; »Lebensmittelskandal – So ein Schweinesystem«.
Zu DDR-Zeiten waren im gleichnamigen Blatt keine derartigen Berichte zu finden. Woran lag das nur? Hatte etwa Erich Honecker die strenge Weisung gegeben, über solche Schattenseiten im Realsozialismus nicht zu berichten? Hatte die Agitationskommission beim ZK der SED, die wöchentlich die Chefredakteure zusammenrief, nachdrücklich geholfen, diesen Befehl an die Medien durchzusetzen? Hatte das Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates in seinen Argumentationshinweisen die Zeitungen der Blockparteien verpflichtet, sich eisern zurückzuhalten? Oder gab es etwa gar in dem unter der SED-Diktatur errichteten Gesellschaftsmodell neben den bekannten Widrigkeiten und Unvollkommenheiten solche sozialen Mißstände, Klüfte und Skandale nicht? Das wäre doch unglaublich! Sollten die Strompreise und die Wohnungsmieten tatsächlich konstant und niedrig, die Einkommensunterschiede wirklich überschaubar gewesen sein und im Höchstfall nur 1 zu 7 betragen haben? Gab es denn keine Kinderarmut, keine Obdachlosen, jedoch einen sozialen Wohnungsbau? Fuhr die Berliner S-Bahn etwa auch im strengsten Winter zuverlässig? War über Lebensmittelskandale einfach deswegen nichts zu berichten, weil sie in dem »maroden Unrechtsstaat« nicht vorkamen? Das kann einfach nicht sein. Schließlich ist die auf optimale Gewinnmaximierung orientierte kapitalistische Markt- der Planwirtschaft haushoch überlegen. Und sozial ist sie außerdem. Ganz zu schweigen von der Überlegenheit des christlich-abendländischen Wertekanons über die perfide Unmoral »eines totalitären Systems, das letztlich auf einen Nihilismus, auf eine Entleerung der Seelen, hinauslief«, wie es seine Heiligkeit, unser deutscher Papst Benedikt XVI., klar und einprägsam formulierte. Und so bleibt die Frage, wie es die DDR-Oberen schafften, all diese doch gewiß vorhandene Not und Beschwer unter den Tisch zu kehren und in den Medien gänzlich zu verschweigen?
In die Angelegenheit muß endlich Licht gebracht werden! Aber auch hier keimt neue Hoffnung auf, daß das Volk endlich die Wahrheit erfährt. Nach den zurückliegenden Großen Gedenkjahren der Großen Deutschen Friedlichen Freiheitsrevolution steht ein neues bedeutsames Jubiläum ins Haus: der 50. Jahrestag des Baues der Berliner Mauer. Mit ihrem Fall »öffnete sich«, so die eingangs erwähnte Krisenbewältigerin Merkel in ihrer historischen Rede auf dem »Fest der Freiheit« am Brandenburger Tor am 9. November 2009, »das Tor zur Freiheit ... Es begann eine Ära der Einigkeit, des Rechts und der Freiheit.« Diese ist auch in den Medien, darunter eben auch in der Berliner Zeitung, Tag für Tag zu erleben. Wie es früher östlich der Mauer wirklich aussah, wird uns wieder einmal nachgeliefert werden, und wir werden endlich unter anderem auch weitere Details sowohl über Armut, soziale Klüfte und Mietwucher als auch über chaotische Verkehrsverhältnisse und vergiftete Nahrung im Unrechtsstaat erfahren. Hubertus Knabe, der eifrige Forscher aus dem Westen, wird es irgendwann, irgendwie herauskriegen. Wir sind gespannt und freuen uns darauf.