Vor 40 Jahren, im Januar 1972, beschloß die Ministerpräsidentenkonferenz von Bund und Ländern unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) den sogenannten »Radikalenerlaß«. Per Regelanfrage beim Verfassungsschutz wurden in der Folge etwa 3,5 Millionen Bewerber und Anwärter für den öffentlichen Dienst darauf überprüft, ob sie jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten. Es kam, bis zur Einstellung der Regelanfrage 1979 aufgrund massiver in- und ausländischer Kritik, zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbern und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Betroffen waren fast aus-schließlich Anhänger linker Gruppierungen wie der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA und von Teilen der Friedensbewegung. Auch nach dem Ende der Regelanfrage ist eine Bedarfsanfrage im Verdachtsfall möglich. Alt-Bundeskanzler Willy Brandt bezeichnete den Radikalenerlaß im nachhinein als »Irrtum«. Im Jahr 1995 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, daß der Radikalenerlaß gegen die Menschenrechte der Meinungsfreiheit und Koalitionsfreiheit sowie gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe.
Pünktlich zum 40. Jahrestag des Radikalenerlasses trat erneut zutage, in welchem Ausmaß der Verfassungsschutz einen extremistischen Generalverdacht gegen Linke pflegt. Im Visier der Spitzel sind nicht nur kommunistische Briefträger und Lokomotivführer, sondern auch gewählte Abgeordnete. Wie der Spiegel berichtete, wird rund ein Drittel der Abgeordneten der Linksfraktion im Bundestag vom Verfassungsschutz beobachtet. Neben 27 Bundestagsabgeordneten stehen auch mindestens elf Landtagsabgeordnete aus verschiedenen Bundesländern im Visier der Spitzel. Betroffen sind unter anderem die Parteivorsitzende Gesine Lötzsch, der Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Gregor Gysi, und die Vizepräsidentin des Bundestags, Petra Pau. Rund 400.000 Euro kosten die sieben Planstellen im Geheimdienst für die Überwachung der Linkspartei jährlich. Zum Vergleich: Für die NPD sind zehn Beamte abgestellt, was sich auf 590.000 Euro beläuft – hier natürlich zuzüglich der Ausgaben für die V-Männer. Zwar versichert Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), die Überwachung der Abgeordneten erfolge ohne Geheimdiensttechnik wie Wanzen, Telefonmitschnitte und V-Leute allein durch die Auswertung von Zeitungsartikeln, Reden et cetera. Doch gleichzeitig kann der Verfassungsschutz nicht ausschließen, daß auch Erkenntnisse, die bei der Beobachtung von Veranstaltungen oder ihrerseits geheimdienstlich überwachten Kontaktpersonen der Abgeordneten auf konspirative Weise erlangt wurden, in die Akten der Abgeordneten einfließen. Zudem erklärte der Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes, Hans-Werner Wargel, daß seine Behörde die Linkspartei einschließlich ihrer Abgeordneten mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht.
Neu ist die Bespitzelung der Linkspartei nicht. Neu ist allenfalls der jetzt öffentlich bekannt gewordene Umfang der Überwachung gewählter Abgeordneter. Offiziell richtet sich die Beobachtung der Partei gegen offen antikapitalistische Zusammenschlüsse wie die Sozialistische Linke, die Kommunistische Plattform, das Marxistische Forum, den Jugendverband Solid und den Hochschulverband Die Linke.SDS sowie die Arbeitsgemeinschaft Cuba Si. Da sich diese aus Sicht des Verfassungsschutzes »extremistischen« Strömungen in der Linken befinden, darf die ganze Partei überwacht werden. Zu diesem Schluß kam das Bundesverfassungsgericht im Falle des Thüringer Linksparteiabgeordneten Bodo Ramelow, der gegen seine Überwachung geklagt hatte. Es sei unerheblich, ob Ramelow selber einem der extremistischen Zusammenschlüsse angehöre, so das Gericht. Kurz gesagt gilt hier: »Mit gefangen, mit gehangen.«
Die Überwachung von allem, was links ist, hat Tradition in der Bundesrepublik. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde zur Hochzeit des Kalten Krieges 1950 unter aktiver Mitwirkung ehemaliger Nazis und Kriegsverbrecher aus SS und Sicherheitsdienst geschaffen. Der Name »Verfassungsschutz« täuscht. Auftrag war nicht der Schutz des Grundgesetzes, sondern die Bekämpfung der angeblichen kommunistischen Gefahr. Unter den vom Verfassungsschutz Überwachten fand sich so in den 1960er Jahren etwa der überzeugte Pazifist, Sozialdemokrat und Anwalt von KPD-Mitgliedern Gustav Heinemann – ehe er 1969 zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Auch der ehemalige RAF-Anwalt Otto Schily wurde noch während des Bundestagswahlkampfes der Grünen 1983 vom Verfassungsschutz überwacht. Eine Lehre war ihm das nicht. Als SPD-Innenminister weitete er 2001 die Spitzelvollmachten der Geheimdienste stattdessen erheblich aus.
Theoretisch ist es Aufgabe eines Parlamentes, die Regierung zu kontrollieren – einschließlich deren Geheimdienste. Praktisch ist das illusorisch. Was der Verfassungsschutz im Hinblick auf die Linke unternimmt, ist allerdings ein eklatanter Angriff auf das parlamentarische Prinzip: Er nimmt sich das Recht heraus, seinerseits demokratisch gewählte Parlamentsabgeordnete zu kontrollieren. Der Verfassungsschutz dient damit der Regierung als Instrument zur aktiven Bekämpfung politischer Konkurrenten durch ihre öffentliche Brandmarkung als angebliche Verfassungsfeinde und »Extremisten«. Ein solcher Einsatz des Inlandsgeheimdienstes im politischen Meinungskampf verstößt gegen den Geist der Verfassung. Kritik an der Überwachung von Bundestagsabgeordneten kam in diesem Fall selbst von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): »Wenn es tatsächlich wahr ist, daß langjährige Bundestagsmitglieder bis hin zur Bundestagsvizepräsidentin überwacht werden, wäre das unerträglich.«
Es gelte, einer möglichen »Instrumentalisierung des Parlaments« durch die Linksfraktion auf die Schliche zu kommen, rechtfertigt das Bundesinnenministerium die Überwachung der Linksabgeordneten mit Sorge um die Demokratie. Doch um das parlamentarische Agieren der Linken zu beobachten, braucht es wahrlich keinen Geheimdienst. Gesetzesinitiativen, Parlamentsreden, Presseerklärungen, vielfach auch das Abstimmverhalten sind öffentlich. Das ist Sinn und Zweck der parlamentarischen Tätigkeit, die ja von den Wählern nachvollzogen werden soll.
Auch die unsägliche Extremismusthese, wonach sich antikapitalistische Linke und faschistische Rechte letztlich in ihrer Verfassungsfeindlichkeit gleichen, wird vom Bundesinnenminister bemüht. Man müsse die Abgeordneten der Linken auch deswegen beobachten, weil man sonst die Überwachung von NPD-Landtagsabgeordneten nicht rechtfertigen könne, so Friedrich. Nicht etwa das menschenverachtende Agieren und Agitieren der NPD, sondern Proporzgründe werden hier angeführt. Doch die Botschaft ist klar: Die Linke ist ebenso »extremistisch« wie die rassistisch-antisemitische NPD.
So zielt denn die öffentlich eingestandene Überwachung der Linkspartei einschließlich ihrer Abgeordneten auf die Stigmatisierung der Partei in den Augen der Wähler. Diesem Ziel dienen auch die regelmäßig von Union und FDP im Bundestag anberaumten »Aktuellen Stunden«, in denen mal über angeblichen Antisemitismus der Linken, dann über ihr angeblich extremistisches, weil antikapitalistisches Parteiprogramm und/oder über die angebliche Unterstützung für Syriens Staatschef Assad aufgrund der Unterzeichnung eines Appells gegen NATO-Kriege polemisiert wird. Die Linke als sozialistische, antikapitalistische und Friedenspartei soll durch solche künstlich erzeugten Schreckgespenster ebenso getroffen werden wie der sich entwickelnde gesellschaftliche Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung. Auf die Diskreditierung von Protesten zielt der Antrag auf Aufhebung der parlamentarischen Immunität bei einer Reihe von linken Landtags- und inzwischen auch Bundestagsabgeordneten, die sich an Blockaden gegen den Naziaufmärsche beteiligt hatten.
Auch die bürgerliche Presse zeigte sich vielfach empört über die Abgeordnetenüberwachung. Doch nicht jede hier geäußerte Kritik an der Abgeordnetenüberwachung ist ehrlich gemeint. So heißt es etwa in der Frankfurter Rundschau: »Sicher gibt es Versuche, unter dem Schutzmantel der Linkspartei umstürzlerische Propaganda zu betreiben. Dazu gehört unverhohlene Sympathie für Terroristen im Nahen Osten, solange sie gegen Israel sind. Dazu gehören auch Veranstaltungen, bei denen – durchaus ernst gemeint – über Wege zum Kommunismus fabuliert wird. Die Vernünftigen unter den Linken sehen diese Gefahren. Beobachtet der Verfassungsschutz also genau, dann weiß er, daß Gregor Gysi, Bodo Ramelow, Halina Wawzyniak oder Petra Pau schon seit mittlerweile Jahrzehnten gegen die extremistischen Tendenzen in ihrer eigenen Partei arbeiten.« Der Deutschlandfunk verweist in diesem Zusammenhang auf »Spinner in den linken Reihen«, die Fidel Castro ehren oder angeblich den Mauerbau relativieren, also historisch einordnen, oder zum Boykott israelischer Waren aufrufen. Im Klartext: Das Bespitzeln des linken Parteiflügels wäre ja schon o.k. Aber die Realos, die die »Radikalinskis« im Zaum halten, sollten doch nicht mit unter Extremismusverdacht gestellt werden, weil das am Ende nur die Partei zusammenschweißt. Solche Kritik an der geheimdienstlichen Bespitzelung der Linken dient vor allem einem Ziel: durch das weitere Anheizen von Flügelkämpfen die Linkspartei zu spalten. Vor solcher vergifteter Solidarität gilt es sich in acht zu nehmen.