erstellt mit easyCMS
Titel0312

Sparen zum Fenster hinaus  (Ralph Hartmann)

Ob die Kanzlerin, gelernte Physikerin, in der europäischen Geschichte sattelfest und Leopold I. für sie ein Begriff ist, ist nicht bekannt. Möglich ist es, denn der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation regierte mehrere Jahrzehnte (1658–1705), und Angela Merkel würde es ihm gern gleichtun, obwohl die Aussichten dafür allein angesichts des Zustandes des gelben Partners gering sind.

Leopold I. hatte die Angewohnheit, während seiner Aufenthalte in Regensburg – dem Sitz des »Immerwährenden Reichstages« – aus einem Fenster des Rathauses hin und wieder dem versammelten, meist armen Volk einige Münzen zuzuwerfen, was die reichen Steuerzahler erzürnte und riefen ließ: »Er wirft das Geld zum Fenster hinaus.« Auf solch eine Geste gegenüber den Armen würde die Kanzlerin nie kommen. Sie kennt die schwäbische Redensart: »Mit kloine Schritt kommt’s Geld ens Haus – naus macht’s große« und stellt sich selbst als sparsam, eben als »schwäbische Hausfrau« dar.

Wie ernst es ihr damit ist, hat sie ausgerechnet auf einem Kirchentag, dem 2. Ökumenischen in München, im Mai 2010 gezeigt, als sie die Bundesbürger auf einen rigiden Sparkurs einschwor. Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise laute die Kernfrage in den kommenden Wochen: »Wo können wir sparen?« Einen Monat später gab sie die Antwort. Gemeinsam mit Guido Westerwelle, damals noch Vizekanzler, stellte sie ein schwarz-gelbes Sparpaket – »das größte Kürzungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik« – vor. Mit ihm sollten bis 2014 rund 80 Milliarden Euro eingespart und außer Bildung und Forschung kein Bereich ausgenommen werden.

Wie dieser laut der Regierungschefin »einmalige Kraftakt« aussieht, ist im Bundeshaushalt für 2012 nachzulesen. Jeder Haushaltsposten weist ein Plus aus, mit einer Ausnahme: Im Etat, für den Frau von der Leyen verantwortlich ist, wird gekürzt. Im Vergleich zu 2011 werden die Ausgaben für Arbeit und Soziales um 4,38 Milliarden Euro zurückgefahren. Hier wird tatsächlich »gespart«, auf Teufel komm raus. Gekürzt werden unter anderem die Mittel zur Eingliederung in Arbeit um 900 Millionen Euro, zur Arbeitsförderung um 808 Millionen Euro, für Arbeitslosengeld II um 900 Millionen Euro.

Als die Kanzlerin auf dem Münchner Kirchentag das große Sparen ankündigte, pries sie die bundesdeutsche Soziale Marktwirtschaft als Vorbild für »überall auf der Welt« und beschwor wiederholt »unsere Werte – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität«. Offensichtlich aber gelten diese Werte nicht für alle, schon gar nicht für die 11,5 Millionen Armen in unserem reichen Land. Auf deren Kosten wird gespart, von der Wiege bis zur Bahre. Wenn die Großeltern ihren kleinen Enkeln in einer »Hartz IV«-Familie Geld schenken, so gilt das laut einem Urteil des Bundessozialgerichtes als Einkommen und führt zu einer Kürzung des Arbeitslosengeldes II. Stirbt ein armer Bundesbürger, so wird den Hinterbliebenen eine Discountbestattung mit Verbrennung des Leichnams im billigeren Ausland, zum Beispiel in Tschechien, empfohlen, denn der Durchschnittspreis für eine normale Beerdigung beträgt mittlerweile 5.000 Euro. Auch den Mitbürgern mit niedrigem Einkommen wird geraten, zu Lebzeiten Vorsorge für das Ableben zu treffen und zu sparen.

Während die Kanzlerin Sparsamkeit predigt, wirft sie wie ihre Vorgänger das Geld zum Fenster hinaus; nicht wie Leopold I. in kleinen Münzen, sondern in großen Scheinen und Schecks. Allein schon eine kleine, eingestandenermaßen wenig sortierte Auswahl zeigt ihre und ihres Kassenwarts Großzügigkeit:
Für die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden Milliarden verschleudert, am meisten für den Feldzug in Afghanistan. Laut einer Berechnung des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung kostete die deutsche Teilnahme am Krieg am Hindukusch bisher zwischen 18 und 33 Milliarden Euro. Jedes weitere Jahr verschlingt wenigstens drei Milliarden Euro.

Der Staat subventioniert das Lohndumping der Unternehmer und zahlt für Niedriglöhner und »Hartz IV«-Aufstocker jährlich vier Milliarden Euro.

Wie der Kirchenfinanzexperte Carsten Frerk jüngst errechnete, betragen die staatlichen Leistungen an die evangelische und katholische Kirche jährlich etwa 19 Milliarden Euro. Gläubige können ihre Kirchensteuer von der Einkommenssteuer absetzen, womit dem Staat rund drei Milliarden Euro verloren gehen.

Das Amt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR wurde 2011 mit rund 96 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt finanziert. Die Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen wird erweitert und umgebaut. Der Bund und das Land Berlin stellen dafür 16 Millionen Euro bereit. Das Stasimuseum in der Berliner Normannenstraße wurde renoviert, wofür der Staat über zehn Millionen Euro ausgab.

Unmittelbar nach der Eröffnung einer kostenaufwendigen Dauerausstellung am Berliner Bahnhof Friedrichstraße, in der die Geschichte des DDR-Unrechtsstaates präsentiert wird, wird wenige Kilometer davon entfernt ein neues Museum über den »Alltag in der SED-Diktatur« eingerichtet. Zu den zweifellos hohen Kosten werden keine Angaben gemacht.

Der aus kleingeistigen politischen Gründen erfolgte Abriß des Palastes der Republik verschlang 119 Millionen Euro. Für die Wiedererrichtung des Hohenzollernschlosses sind 590 Millionen eingeplant, intern wird mit wesentlich mehr gerechnet. Im Unterschied zum Palast der Republik wird das asbestbelastete Internationale Congress Centrum Berlin (ICC) saniert, wozu das überschuldete Land Berlin 320 Millionen Euro aufbringen muß. Für den monströsen Neubau der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes auf dem 260.000 Quadratmeter großen Gelände in Berlin – laut Kanzleramtschef Pofalla »das größte Bauvorhaben, das von der Bundesrepublik jemals in Angriff genommen wurde« – müssen inklusive Umzug und feinster Technik zwischen 1,5 und 1,8 Milliarden Euro aufgebracht werden.

Die Zahl der pensionierten hochrangigen Staatsdiener in Bund und Ländern sowie Militärs ist Legion. 2010 betrugen die Pensionen eines Staatssekretärs 8.208,31 Euro und eines Generalmajors 6.033,44 Euro monatlich – das Zigfache eines »Hartz IV«-Satzes. Aus dem Regierungsdienst Ausscheidende erhalten hohe sogenannte Übergangsgelder. Dem nach zwölf Tagen Amtszeit entlassenen Berliner Justizsenator a. D. Braun sollen 50.000 Euro hinterhergeworfen werden.

Milliarden und Abermilliarden Euro verschenken die Regierenden durch die Weigerung, den Spitzensteuersatz und die Steuer für große Erbschaften zu erhöhen sowie eine Vermögens- oder Millionärssteuer einzuführen. Wozu auch? Wie sie unter anderem behaupten, wäre der bürokratische Aufwand zu groß. Den allerdings gibt es in der deutschen föderativen Republik im Übermaß. Neben dem aufgeblähten Apparat der Bundesregierung kosten die 16 Kopien in den Bundesländern, von den Ministerpräsidenten bis zum Wachpersonal, Unsummen.

Die kleine Auswahl ist, das sagt schon das Wort, unvollständig. Aber bereits ein Teil des verpulverten Geldes würde ausreichen, um die Lage der sozial Benachteiligten spürbar zu verbessern, die leeren Kassen der Kommunen aufzufüllen und die Schuldenuhren des Bundes und der Länder wenigstens erst einmal zum Stehen zu bringen. Doch nichts dergleichen geschieht.

Als der Herrscher Leopold I. im Mittelalter die kleinen Münzen aufs arme Volk warf, um sich ihre Huld zu erkaufen, haben sich die steuerzahlenden Reichen empört und es Vergeudung genannt. Heutzutage werden im Interesse der Reichen und Superreichen Riesensummen zum Fenster hinausgeworfen, und die Herrschenden nennen es »Sparpolitik«. »Tempora mutantur, nos et mutamur in illis – die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen.« Das sagte nicht die sparsame Frau Merkel und auch nicht Leopold I., sondern der machtgierige Lothar I., der lange vor dem Münzenwerfer, von 840 bis 855, eine Kaiserkrone trug. So ist es eben: Andere Zeiten – andere Sittenlosigkeit.