Marokko ist unter den Ländern des Maghreb ein Sonderfall. Die sozialen Probleme sind zwar vergleichbar mit denen anderer Länder dieser Region: eine hohe Arbeitslosigkeit besonders unter den Jugendlichen, das Auseinanderdriften von Arm und Reich, die negativen Folgen einer Modernisierung unter neoliberalen Vorzeichen. Was mit einer blumigen Wortschöpfung »Arabellion« genannt wird, trifft hier aber auf ein funktionierendes Königtum mit jahrhundertealter Tradition.
Am 20. Februar 2011 gingen in Marokko Hunderttausende auf die Straße. In der daraus entstandenen »Bewegung des 20. Februar« zeigen sich auch antimo-narchistische Tendenzen. Sie sind aber nicht mehrheitsfähig. Mit wem immer wir auf unserer Rundreise darüber sprechen – jeder sagt uns, daß der 1999 inthronisierte König Mohammed VI., anders als sein Vater, reformbereit, ja geradezu der Mentor sozialer Reformen sei. Nur die Politiker in seiner Umgebung seien »Diebe«.
Anfang Juli letzten Jahres gab es ein Referendum, bei dem fast alle, die daran teilnahmen, für eine Verfassungsänderung stimmten, nach der Marokko eine »konstitutionelle, parlamentarische, soziale und demokratische Monarchie« sein soll. Diese Bezeichnung entspricht nicht unserem Verständnis von Demokratie, denn nach wie vor bleibt die Stellung des Königs außerordentlich stark. Er und seine Familie sind auch an bedeutenden Wirtschaftsunternehmen beteiligt. »Gott – Vaterland – König« ist eine Parole, die wir mitten in karger Landschaft mit Steinen ausgelegt auf einem Bergrücken sehen. Andererseits sind in der Verfassung Menschenrechte wie das »Recht auf Leben«, das Folterverbot, die Geltung internationaler Konventionen und die Gleichberechtigung der Geschlechter festgeschrieben. Es wird, wie immer, auf die Praxis ankommen. Bemerkenswert ist, daß zum Beispiel Marrakesch, die viertgrößte Stadt des Landes, eine Frau als Oberbürgermeisterin hat, die sich nicht scheut, gegen heftige Widerstände Korruptionsaffären in der Verwaltung aufzudecken.
Am 25. November 2011 fanden vorgezogene Wahlen zur Nationalversammlung statt, aus denen die gemäßigten Islamisten der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) als Sieger hervorgingen. Die PJD verspricht unter anderem die Anhebung des Mindestlohns um 50 Prozent und eine Bekämpfung der Korruption. Zum ersten Mal wurde gemäß der neuen Verfassung der Führer der Partei, die die meisten Abgeordneten stellt, mit der Regierungsbildung beauftragt. Wie wir französischsprachigen Zeitungen entnehmen, die in Marokko seit den Zeiten der Okkupation durch Frankreich erscheinen, gab es im Vorfeld der Wahlen lebhafte Debatten um eine Neustrukturierung der Parteien und der politischen Lager. Das Spektrum reicht von Traditionalisten bis hin zu Sozialisten, deren soziale Basis aber angesichts der noch vergleichsweise geringen Industrialisierung des Landes nicht groß ist.
»Marokko, das Land der Pferde« – unter diesem Titel will eine Anzeige der Marokkanischen Agentur für Investitionsentwicklung im Spiegel (Heft 47/11) ausländisches Kapital ins Land locken. Gezeigt werden moderne Pferdestärken – eine Taktstraße der Automobilproduktion in Casablanca. Im Text ist die Rede von der »optimalen geographischen Lage in unmittelbarer Nähe zu Ihren Kunden in Europa« und dem »umfassend qualifizierten Personal für Ihre Branche«. Bisher hat die Nähe Marokkos zu Europa vor allem die legale und illegalisierte Arbeitsmigration nach Frankreich und Spanien gefördert.
Überall in den Dörfern des Südens sehen wir neue, recht geräumige Häuser, die sich die im Ausland arbeitenden Marokkaner von ihrem Ersparten bauen. Es sieht so aus, als gäbe es keine Landflucht. Im Unterschied zu den traditionellen Häusern aus Stampflehm, die alle Farbnuancen der verwendeten Erde von Braun bis Rot aufweisen, sind die neuen aus Beton. Sie werden, da sie angestrichen werden müssen, zu einer größeren Farbvielfalt in den Dörfern führen. Zugleich wird damit der Unterschied zur umgebenden Natur betont werden, was in einer für europäische Augen überraschenden Weise bisher nicht der Fall ist.
Viele der in Marokko Kasbah genannten festungs- und burgartigen Lehmgebäude der früheren feudalen oder reichen Familien sind verfallen wie bei uns die romantischen Burgruinen am Rhein. Ihre Türme werden allmählich vom Regen heruntergewaschen oder sie bröckeln unter der Sonne weg. Ein ketzerischer Gedanke: Wenn doch nur die Frankfurter Banktürme in gleicher Weise Opfer des meteorologischen und sozialen Klimawandels würden!
Auf der Fahrt durch den Süden sehen wir, wie sich grüne Oasen entlang von Flußläufen oder an Wasserstellen zwischen verkarsteten Bergen und Geröllwüsten behaupten. Hier und da liegen bunte Teppiche auf den abgeernteten Feldern, und auf den flachen Dächern der Häuser reifen die ausgebreiteten Datteln nach. Datteln sind im Süden die Haupteinnahmequelle der Bauern und ein wichtiges Exportgut. Es sollen weitere Hunderttausende Dattelpalmen angepflanzt werden. Aufforstungsversuche mit anderen Nutzbäumen außerhalb der Oasen sind bisher oft fehlgeschlagen.
Stolz erzählt uns unser marokkanischer Reiseführer, daß gerade eben ein weiteres Abkommen mit der Firma Siemens über die Produktion von Solarstrom in der Wüste abgeschlossen worden sei. Er begrüßt den Ausstieg aus der Nutzung der Atomkraft in Deutschland und ist auch kein Freund der Mineralölwirtschaft. Vielleicht liegt das daran, daß Marokko über diese Ressource nicht in nennenswertem Ausmaß verfügt und – anders als das Nachbarland Algerien – Erdöl und Erdgas teuer importieren muß.
Ein wichtiges Produkt in der wüstennahen Region des Landes sind Gebrauchsgegenstände aus Sedimentgestein, in dem sich die phantastischsten Umrisse von Urtieren abzeichnen. Mit großer Sorgfalt und Geduld werden in den Werkstätten einzelne Versteinerungen herausgearbeitet, die sich offenbar in so großer Zahl finden, daß sie frei verkauft werden können, statt allein in naturkundliche Museen zu wandern. Der fließend Deutsch sprechende Vertreter der Firma Morabit Marbre in Erfoud meint dazu: »Wir haben die Zeit, ihr habt das Geld.« Eine die Verhältnisse treffende Abwandlung des berühmten Spruchs von Benjamin Franklin: Zeit ist Geld. Zugleich eine leicht ironische Aufforderung, etwas zu kaufen.
Die Armut zeigt sich in Marokko nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land. Dörfliche Märkte im Süden gleichen unseren Flohmärkten. Schockierend für sensible Gemüter sind die Stände, an denen direkt an der Straße Fleisch in jeder Form angeboten wird, auch Köpfe mit glotzenden toten Augen, und unmittelbar daneben köchelt auf offenem Feuer in Tahine-Tontöpfen das schnelle billige Mittagessen.
Marokko – ein Land der Gegensätze. Im Souk von Marrakesch fühlen wir uns einen Moment lang in die Märchenwelt des Orients versetzt. Bis mit dem lauten Ausruf »Attention« ein Mofa-Fahrer, der etwas in den engen Gassen zu transportieren hat, uns aus allen Träumen reißt und mit einer Wolke von Auspuffgasen umnebelt. Immerhin gibt es jetzt eine königliche Stiftung, die das Umweltbewußtsein von Schülern fördern soll.
Immer wieder öffnet sich mitten im Bazar unvermutet die Ladenreihe, der Eingang zu einer kleinen Moschee wird sichtbar, kostbare Ornamente zeigen den ganzen Reichtum der islamischen Kultur. Im Unterschied zur Türkei ist Nicht-Muslimen in Marokko der Zugang zu Moscheen verwehrt, so daß wir nur einen kurzen Blick ins Innere werfen können.
Im Kontrast zu den Dörfern, den Slums und den ärmeren Vierteln stehen neue Siedlungen in der Umgebung der Großstädte mit erschwinglichen Eigentumswohnungen für die neue Mittelschicht. Daß Marokko – trotz guter Zuwachsraten in den letzten Jahren – nicht von der Krise verschont bleibt, zeigt eine Karikatur in einem Wirtschaftsblatt. Da sieht man einen Europäer bis zum Hals in einem mit brauner Masse gefüllten Pool stecken, und ein Marokkaner ruft ihm zu: »Wir wissen ja, daß du tief drinsteckst, aber kannst du uns nicht noch ein paar Jeans abkaufen?« Eine Anspielung darauf, daß der Export der marokkanischen Textilindustrie nach Europa zurückgegangen ist.
Direkt an die Palastmauern in Fes, einer der Königsstädte des Nordens, ist die alte Straße der Juden gebaut. Sie stehen unter dem besonderen Schutz des Königs, seit sie nach der christlichen Reconquista zusammen mit den Mauren aus Spanien fliehen mußten. Die Frage, ob der Nahostkonflikt nicht das traditionell gute Verhältnis zu den Juden überschatte, verneint unser Stadtführer in Fes: »Vergessen Sie nicht, wir sind mehrheitlich Berber, keine Araber.« Im Hotel in Erfoud erleben wir eine Gruppe von Juden aus Israel, die wie selbstverständlich ihr ehemaliges Heimatland besuchen. In der Kasbah von Ouerzazate, am Rande der Wüste, zeigt uns ein junger Mann, der auf der Hotelfachschule Deutsch gelernt hat, mitten in den Ornamenten und Arabesken einer Decke vier Judensterne – eine Ehrung für die Juden, die den Berbern die Wissenschaften und den Handel beibrachten.
Einen Sonnenuntergang in der Sahara zu erleben gehört zum touristischen Standardprogramm. Wir verzichten auf den obligatorischen Kamelritt auf die Düne, haben aber keine Chance, ungestört zu bleiben. Zwei Wüstensöhne im malerischen Outfit heften sich an unsere Fersen und lassen uns nicht mehr los. Sie erzählen uns bei tiefer sinkender Sonne von den Schattenseiten der Wüste: Im Winter sei sie zu kalt und im Sommer zu heiß für die Touristen. Da hätten sie dann kein Einkommen. Wir seien nur einen Tag da, sie müßten hier leben. Trotz unseres Alters seien wir noch erstaunlich fit, während ihre Eltern schon mit Fünfzig alt und verbraucht seien. Einmal im Leben solle jeder die Wüste sehen, damit er die andere Seite des Lebens erfahre. Vielleicht sei es an der Zeit, daß die Berber eine Expedition nach Deutschland machten, so wie wir diese Expedition in die Wüste unternähmen. Was den Islam betrifft, so lebten sie ihn ohne Abstriche und Schnörkel, erfüllten alle Gebote. Von den Wahlen sei nichts weiter zu erwarten. Die Reichen blieben reich und die Armen arm. Aber der König sei ein guter König.