Auf zum Deutschen Theater, das immer etwas eleganter und zugleich welthaltiger ist als die Volksbühne, der es das Provozieren überläßt. Auch in der vorgestellten Autorin Ayn Rand und deren Stück »Capitalista, Baby« steckt viel Welt. Eigentlich hieß sie Alissa Sinowjewna Rosenbaum, 1905 in Petersburg geboren, exilierte sie 1926 in die USA, lebte in New York und wurde eine Bestsellerautorin. Ihr Roman »The Fountainhead« (in deutsch unter den Titeln »Der ewige Quell« und »Der Ursprung« erschienen) diente nun als »Bühnenvorlage«, um es vorsichtig auszudrücken. Verursacher war der herrliche Komödiant Jürgen Kuttner (mitsamt Tom Kühnel), der sich unlängst wieder an Peter Hacks »Die Sorgen und die Macht« gewagt hatte. Was wir gesehen hatten, hat erträgliche Ähnlichkeit.
Der antiheldische Held Roark, ein halbwegs gescheiterter Architekt, sprengt sein fast eigenes Machwerk – ohne Menschenverluste immerhin –, weil es seinen Entwürfen in der Ausführung durch andere nicht entspricht. Er wird nicht schuldig gesprochen, kann das Seine bauen, kommt an die gewünschte Frau, so eine langweilige Dutzendschöne à la Modeblättchen. Unbefriedigt verläßt man den Abend. Kapitalismuskritik ja – kann man diese Gesellschaft überhaupt unkritisiert lassen? Doch ist das alles so diffus, trotz manch guter schauspielerischer Leistung: Kuttner selbst moderiert sich und seine Produktion als Ayn Rand – eigentlich das einzig Überzeugende von der Darstellung her. Gut angesichts der Niederlage deutscher Sprache an vielen Bühnen: der gesprochene Dialog. Daniel Hoevel als Roark hat etwas von der ekelhaften Blasiertheit in der heutigen guten Gesellschaft, in der es einen meist würgt – er wirkt gekonnt. Alle übrigen zielen auf diese elende Geisteshaltung, da aber vermischen sich Gesinnung und ungekonnte Darstellung. Das alles wird durch eine Szenerie von Jo Schramm verstärkt, deren bewegliches Zeichen der Dollar ist. Das Ganze erscheint als so ekelhaft, daß der Zuschauer sich fragt: Und darin muß ich leben? Von der Sache her ziemlich richtig, doch erwartet man von der Bühne nicht etwas mehr als puren Naturalismus? Selbst die Vorlage der Rand gibt mehr her: eine Ahnung, das solche Existenz überwindbar sei.
Eine ähnlich miese Gesellschaft, nur mit besserer Menschlichkeit und stärker irdischem Verhaftet-Sein, treffen wir in »Der Mann ohne Vergangenheit« von Aki Kaurismäki, dem großen finnischen Filmer (»Ariel«, »Le Havre«, »Lichter der Großstadt« und andere), an. Oder schreiben wir besser »nach« Kaurismäki und seinem mehrfach preisgekrönten Film gleichen Namens von 2002 (Großer Preis der Jury 2002 in Cannes, Luis-Bunuel-Preis)? Die deutsche Textfassung stammt von Maria Helena Nyberg, und das Regie-Team unter Dimiter Gotscheff (Dramaturgie Claus Caesar) machte sich eine Spielfassung für das Theater zurecht. Diese Fassung hat eine Fabel und nutzt einen alten Topos der Weltliteratur: Ein Mensch verliert durch ein Unglück Gedächtnis und Identität – hier wird er zusammengeschlagen. Ihm bleibt ein Existenz-, ein Überlebenskampf. Einige helfen ihm, selbst meist Ausgeschlossene, und Solidarität siegt über Egoismus. Mögen einige in Interviews geäußerte Sätze des Autors seinen Standort verdeutlichen: »Der Ausgangspunkt all meiner Filme ist die Dekadenz der Menschheit.« – »Ich bin immer noch Kommunist. Ganz gleich, ob man nun vom Kapitalismus oder von Sozialismus spricht – ich glaube, Karl Marx hatte den richtigen Riecher, was Gesellschaftssysteme angeht.« – »Das ist der einzige Zweck, den meine Filme haben: Die Leute sollen sie sehen und dann glücklicher sein als vorher. Wenn mir das gelingt, dann könnte ich platzen vor Freude.« Zu sehen war eine insgesamt ausgeglichene Aufführung; auf einige klamottige Szenen (Besäufnis) hätte man verzichten können. Die letzten Worte haben Irma (Almut Zilcher) und M. (Wolfram Koch): »Irma: Du warst lange fort. M: Nein. Irma: Einen Monat hatte ich Angst ... M: Grundlos.« Das entläßt einen bangen Zuschauer mit etwas mehr Mut.
Als nächstes sah ich Eugene O’Neills »Trauer muß Elektra tragen«, jene Adaption der »Oresteia« des Aischylos, in der psychologisierend-analysierenden Methode Euripides näher als dem alten Attiker. Und im Pessimismus ebenfalls. Doch gemeint sind nicht Polis und Antike überhaupt, sondern die USA zur Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1929. Die Figuren ähneln denen der alten Trilogie (eigentlich Tetralogie, aber das Satyrspiel ist nicht überliefert), Agamemnon ist General Mannon, Klytaimnestra Christine; deutlicher wird das bei Orest und Orin, nur Elektra selbst heißt hier Lavinia. Historischer Hintergrund ist der US-amerikanische Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts.
Als ich die Ankündigung sah, dachte ich zunächst, warum diesen alten Hut wieder aufsetzen? Ich sah das Stück in den fünfziger Jahren im Wiener Josephstädtischen Theater, und da dauerte es etwa fünf Stunden und erschien mir seelenquälerisch bis langweilig. Wozu das also? Weit gefehlt! Es zielt ins heutige Elend, ins US-amerikanische wie in das hiesige.
O’Neill im Jahre 1934: »Ich gehe aus von der Theorie, daß die Vereinigten Staaten, anstatt das erfolgreichste Land der Erde zu sein, der größte Fehlschlag sind.« Und das wird hier – zumindest theoretisch – ausgedrückt. Wenn es eine große Dichtung ist, dann greift sie über ihre eigenen Zeit hinaus, also über Stück- wie Entstehungszeit.
Insofern schien der Stoff zunächst ein guter Griff für einen Spielplan, heute freilich bearbeitet – als Gesamtopus mit veraltetem Psycho-Pathos nicht spielbar. Doch das Gegenteil eines Fehlers ist wieder ein Fehler: Regisseur Stephan Kimmig und sein Team (Bühne Katja Haß, Dramaturgie Sonja Anders) beschnitten den Textcorpus derart (keine zwei Stunden Spieldauer), daß den handelnden Figuren die Motivation fehlte. Wenig Fleisch, wenig Blut. Es blieben die Knochengestelle. Gut, daß Krieg Menschen zerstört, kam noch heraus, doch das kann man im Lehrbuch haben oder im didaktischen Thesen-Theater. Wenn so, dann muß man Schauspieler haben, wie sie einst dieses Haus hatte, das als Wunderharfe galt in seiner Mischung von Theatron, sprich: Raum und Spielern. Die Schauspieler gaben zu, was im Text fehlte. Das gelang hier bestenfalls in Ansätzen Friederike Kammer als Christine. Alles andere blieb im Guckkasten stecken. Anstelle Tragödie etwas angestrengte Konversation.
Was würde nun der Berufspessimist Michael Thalheimer mit einem eher naturalistischen Stück mit gewisser Denkordnung von Dea Loher – »Unschuld« – auf diesmal weit offener Szene (Olaf Altmann) machen? Ein wenig »Nachtasyl«, ein wenig Beckett gemischt mit Alltagsepisoden und »Denkeln« über dies und jenes – in ziemlich guten Dialogen freilich. Diese Denkart kommt nur bis zur Alles-Vergeblichkeit – alles ist Zufall. So heben sich im Grunde artig gearbeitetes Stück und fleißige Inszenierung selber auf. Wie mögen sich Schauspieler wie Barbara Schnitzler bei solchem Fallout des Bewußtseins fühlen oder begreifen?
Einmal seit Spielzeitbeginn im August 2011 hatte ich das Empfinden, wieder im richtigen DT zu sitzen – ich meine das, in dem noch Welttheater gespielt worden ist – fast jedenfalls. Es gab die »Winterreise« von Elfriede Jelinek, ihr wohl persönlichstes Stück, ausgelöst durch Franz Schuberts gleichnamigen Liederzyklus, von dem etliche Teile über Ton wiedergegeben wurden. Ich erwähnte in Ossietzky 19/11 kurz die Münchner Inszenierung.
In einer Zeit, in der kaum noch ein Bühnenautor eine Fabel herstellen kann, gewöhnt man sich an manches, nur nicht an Langeweile im Theater. Nun ist es gerade das, was die Dichterin Elfriede Jelinek auch kaum kann, hier jedenfalls nicht. Was fesselt dennoch an diesem Theaterabend? Die Sprache, diese poetische Sprache mit ihrer eigenen Musik, mit ihrem Klang. Von fünf Schauspielerinnen (Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesica, Susanne Wolf) gesprochen – durch ein wenig Spiel getragen. Regie führte Andreas Kriegenburg, und die blumige Szene gestaltete Nikolaus Frinke.
Was fesselte noch: Das Thema der Fremdheit. Ein bedeutsames Thema unserer Gesellschaft. Entfremdung ist der zentrale philosophische Begriff dafür, von vielen durchdacht, ohne diese Erscheinung aufheben zu können – dazu bedürfte es anderer Handlungen. Aber diese Fremdheit hat noch eine andere Note – es ist die der Jüdin Jelinek –, die wir Juden am ehesten empfinden können, weil es unsere eigene ist. Die Dichterin Jelinek tut nun, was sie mit Dichtkunst zu tun in der Lage ist: Sie gibt eine Heimat in der Sprache und hebt die Entfremdung auf – aber nur für Minuten, vielleicht für einen Teil der drei Stunden. Da sind wir uns nicht mehr fremd. Damit sind wir wieder bei denen, die sprechen, damit wir die Botschaft erhalten. Aber diese Sprecherinnen, so engagiert sie sind, können das nur bedingt. SprachmeisterInnen stehen nicht zur Verfügung, und Maria Schrader war bei ihrem überlangen Monolog im zweiten Teil überfordert. Ernst Blochs trauriger Finalsatz im »Prinzip Hoffnung« blieb wahr: »... so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«