Der »Verfassungsschutz« (VS) hat im vergangenen Jahr so ziemlich alles an Renommee eingebüßt, was er als sogenanntes Sicherheitsorgan zumindest in bestimmten politischen Kreisen noch hatte. Als Publizist und parlamentarischer Berater konnte ich mein aufklärerisches Scherflein zum Renommee-Verlust des VS beisteuern: Bereits 2011 mit den Urteilen der Verwaltungsgerichte Köln und Düsseldorf, die meine jahrzehntelange Beobachtung durch den VS für grundrechtswidrig erklärten (s. Ossietzky 22/10 und 2/12); zum anderen hatte ich schon vor zehn Jahren vieles von dem recherchiert und in meinem Buch »Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates« als Fallstudien dokumentiert, was heute so großes Erstaunen und Entsetzen verursacht. Wirklich erschreckend: Da konnten sich Neonazis und rechter Terror fast unbehelligt entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen, während der VS – neben vielen anderen linken Gruppen und Antifaschisten – einen linksorientierten Anwalt, Journalisten und Bürgerrechtler mit ideologischer Verbissenheit jahrzehntelang beobachtete, seine Bürgerrechtsarbeit in einer dicken Personenakte registrierte und als »verfassungsfeindlich« einstufte.
Nun, nachdem die Nazi-Mordserie Ende 2011 ohne Zutun von VS und Polizei bekannt geworden war, sah ich mich, der langjährige Rufer in der Wüste, auf diesem Gebiet von heute auf morgen einem gesteigerten medialen Interesse ausgesetzt – als »Geheimdienstexperte«, der intime Kenntnisse über die klandestine VS-Arbeit besitzt und der schon lange vor Bekanntwerden der Neonazi-Mordserie die heillosen Verflechtungen des VS in gewaltbereite Neonaziszenen aufgedeckt und das geheimdienstliche V-Leute-System als unkontrollierbar und demokratiewidrig kritisiert hatte. Und plötzlich wurde selbst das »Undenkbare« wieder diskutabel und gesellschaftsfähig: Was nichts nützt und nur schadet, gehört aufgelöst – »Verfassungsschutz« a. D.?
Tatsächlich glauben angesichts der VS-Verwicklungen und -Vertuschungen immer weniger Menschen an das Märchen vom »Verfassungsschutz«, der Demokratie und Verfassung schütze. Immer mehr Menschen scheinen zu erkennen, daß der VS nicht nur durch seine Pannen und Skandale, sondern schon durch sein reguläres Wirken der politischen Kultur mehr geschadet hat, als er vorgeblich der Verfassung und einer noch recht eingeschränkten Demokratie nützt. Der im Kalten Krieg geprägte, antikommunistische, skandalgeneigte und intransparente Inlandsgeheimdienst hat seine eigene altnazistische Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet, hat im Kampf gegen Nazismus versagt, gefährdet Verfassung und Demokratie und ist demokratisch nicht kontrollierbar.
Gerade in ihrer Ausgestaltung als Inlandsgeheimdienste – die den euphemistischen Tarnnamen »Verfassungsschutz« tragen – sind die 17 VS-Behörden des Bundes und der Länder selbst demokratiewidrige Institutionen. Warum? Weil sie mit ihren geheimen Strukturen und Methoden demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen. Dabei umschlingt das Geheimhaltungssystem des VS schließlich auch Justiz und Parlamente, die den VS kontrollieren sollen. Die reguläre parlamentarische Kontrolle in Bund und Ländern erfolgt ihrerseits geheim. Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute eine Rolle spielen, werden zu Geheimverfahren. Da werden – aus Gründen des »Quellenschutzes«, des »Staatswohls« oder der »Ausforschungsgefahr« – Akten manipuliert, Zeugen gesperrt oder nur mit beschränkten Aussagegenehmigungen versehen. Die Vertuschungs- und Aktenschredder-Aktionen, wie wir sie inzwischen geballt erleben mußten, sind für die systembedingten Verdunkelungsstrategien des VS symptomatisch. Quellenschutz geht vor Mordaufklärung.
Spätestens mit den neuen Skandalen und Enthüllungen hat der VS mitsamt seinem unkontrollierbaren V-Leute-System seine von Anfang an zweifelhafte Legitimation vollends verspielt. Als nachrichtendienstliches »Frühwarnsystem«, das er eigentlich sein soll und sein will, hat er grandios versagt. Aber nicht nur das: Über seine bezahlten Spitzel hat der VS die Neonazi-Szenen und -Parteien sogar mitfinanziert, rassistisch geprägt, gegen polizeiliche Ermittlungen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Damit ist der »Verfassungsschutz« mit seinem kriminellen V-Leute-System zum aktiven und integralen Bestandteil des Neonazi-Problems geworden: Der VS mischt zwangsläufig mit und sieht sich in der Lage, konspirative Schattenpolitik zu betreiben.
Solche Geheimorgane neigen zu Verselbständigung und Machtmißbrauch. Tatsächlich läßt sich die 62jährige VS-Geschichte auch als Geschichte von Skandalen und Bürgerrechtsverletzungen schreiben. Solchen intransparenten, skandalgeneigten und kontrollresistenten Institutionen müssen die nachrichtendienstlichen Strukturen und Mittel entzogen werden – und damit die Lizenz zur Gesinnungskontrolle, zum Schnüffeln und Infiltrieren. Dem steht nicht etwa das Grundgesetz entgegen und auch keine Landesverfassung, denn danach muß der VS keineswegs als Geheimdienst ausgestaltet sein. Gut ausgestattete, öffentlich kontrollierbare Dokumentations- und Forschungszentren würden die Rechtsentwicklung der Gesellschaft und die Bedrohungen für die Verfassung ohne gefährliche Methoden erforschen und erklären können, mit wesentlich besseren diagnostisch-analytischen Fähigkeiten. Alles andere ist Sache von Politik und Zivilgesellschaft, im Fall von Straftaten und Gewalt Sache von Polizei und Justiz.
Doch wie steht es um die wieder denkbar gewordene Forderung nach Auflösung des VS? Nur die Linkspartei plädiert für eine solch klare Lösung. Die Bündnisgrünen fordern zwar eine Auflösung des VS, aber auch Neuaufbau und Neustrukturierung der Inlandsaufklärung. Die sonstigen Reformvorschläge aus dem parlamentarischen Raum greifen viel zu kurz, weil sie sich nicht an die Geheimsubstanz wagen. Es sind Pläne, die darauf abzielen, die Pannen- und Skandalträchtigkeit geheimdienstlicher Arbeit zu verringern und die Effizienz zu steigern – obwohl Pannen und Skandale systembedingt sind und die Effizienz, schon aus Geheimhaltungsgründen, auch künftig kaum meßbar sein wird. Demokratie- und Bürgerrechtsverträglichkeit spielen bei diesen Reformplänen jedenfalls kaum eine Rolle – in erster Linie geht es darum, das reichlich ramponierte Ansehen des VS zu verbessern. Tatsächlich ist etwa die besänftigende Ankündigung, künftig mehr Transparenz schaffen zu wollen und die Kontrolle über den VS zu verbessern, von vornherein zum Scheitern verurteilt: Ein Geheimdienst wird sich niemals wirksam kontrollieren lassen, ohne seinen Geheimdienstcharakter zu verlieren. Ein transparenter, voll kontrollierbarer Geheimdienst ist und bleibt ein Widerspruch in sich.
Die bisherigen Reformpläne treiben im Kern die Zentralisierung und Vernetzung aller Sicherheitsbehörden voran und zielen darauf ab, den geheimdienstlichen Wildwuchs ein wenig zu beschneiden. Beispiel: das zentrale V-Leute-Register. Zum einen sollen für die Führung von V-Leuten bundeseinheitliche Standards erarbeitet werden; zum anderen soll künftig das V-Leute-Unwesen nicht mehr allein föderal betrieben werden, sondern Bund und Länder sollen sich über ihre V-Leute-Einsätze zentral austauschen, um sie besser kanalisieren zu können. In der angestrebten zentralen V-Leute-Datei sollen jedoch keine Klarnamen enthalten sein, sondern nur die Tarnnamen, so daß keine Identifizierung der eingesetzten V-Leute möglich sein wird.
Doch all dies wird nichts daran ändern, daß V-Leute aus Naziszenen gnadenlose Rassisten und Gewalttäter sind, daß sich der VS damit in kriminelle Machenschaften verstrickt, daß kriminelle V-Leute, wie bislang schon, von den führenden VS-Behörden gegen polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen abgeschirmt werden, um sie weiter abschöpfen zu können; es wird sich wohl auch nichts daran ändern, daß sich V-Leute verschiedener VS-Behörden gegenseitig zu Straftaten verabreden, nicht wissend, daß der jeweils andere ebenfalls V-Mann ist.
Die offiziellen Vorschläge greifen allesamt nicht nur zu kurz, sie sind auch kontraproduktiv, gefährlich und verschärfen die Lage zusätzlich – etwa dann, wenn der VS zentralisiert und mit neuen Befugnissen ausgestattet werden soll oder wenn der behördliche Informationsaustausch zwischen VS und Polizei institutionalisiert und intensiviert wird – etwa in gemeinsamen Abwehrzentren oder zentralen Verbunddateien, wie sie bereits installiert worden sind und von Geheimdiensten und Polizei gemeinsam genutzt werden (s. Ossietzky 8/12).
Mit solchen aufrüstenden Modernisierungsmaßnahmen erfährt die Staatsgewalt eine weitere problematische Entgrenzung. Solche Reformen höhlen föderale Strukturen aus und verletzen das verfassungskräftige Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei – eine historisch wichtige Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit, die Geheimdienst und Polizei in einem war; mit dem Trennungsgebot sollte in der Bundesrepublik eine unkontrollierbare Machtkonzentration der Sicherheitsbehörden von vornherein verhindern werden.
Es ist absurd, wie selbst das ideologisch und strukturell bedingte Versagen der Staats- und Verfassungsschutzbehörden von Innenministern reflexartig und populistisch dazu genutzt wird, weitere Nachrüstungsmaßnahmen für solche Versager- und Skandalbehörden durchzusetzen – und damit auch noch im Kampf gegen Rechts demokratie-unverträgliche Strukturen auszubauen, die aufgrund der Erfahrungen mit der Nazizeit gerade verhindert werden sollten.
Rolf Gössners Buch »Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates« ist 2012 in aktualisierter Neuauflage als E-Book bei Droemer-Knaur zum Preis von 6,99 € erschienen.