Stilles Berlin. Der U-Bahnhof Klosterstraße (Erhard Weinholz)
»Ich entsinne mich, daß mich die Menschenleere in Berlin erstaunte«, schrieb der polnische Dichter Witold Gombrowicz, als er 1963 im Westteil der Stadt zu Gast war. Manches Mal hatte er gemeinsam mit Ingeborg Bachmann zu Fuß diesen Westen erkundet, und wenn, so ist bei ihm zu lesen, irgendwo in der Ferne jemand erschien, riefen sie: »Ein Mensch am Horizont!« Und im Osten? »Stargarder Straße 1966«, ein Foto von Ursula Arnold: Mittagszeit, nur wenige Passanten sind unterwegs; am Gehsteigrand läßt ein alter Mann seinen Hund Männchen machen, zwei alte Leute schauen zu, während sich von links tatsächlich ein Auto nähert. Noch in den Achtzigern waren wir, meine Freunde und ich, wenn wir abends von der Kneipe in der Oderberger nebeneinander heimliefen, auf dem breiten Fahrdamm meist völlig allein. Das strapaziöse Getümmel auf den Straßen und Plätzen der Weltstadt, dann der Weltkriegsstadt, hatte sich verflüchtigt, man war nun auch meist unter sich. So lebte es sich hier trotz Mauer und Sperrgebiet entspannter denn je. Und wenn wir gar unbehelligt auf der Straßenmitte laufen konnten, wurde Berlin (Ost) für uns fast schon zur freien Stadt – obwohl wir vor uns immer die Grenzanlagen sahen.
Vielleicht habe ich mir manches vom Lebensgefühl jener Zeit nur herbeifabuliert. Doch gerade so kommen mir diese Jahre in den Sinn, wenn ich zum Bahnhof Klosterstraße hinuntersteige. Er ist einer der schönsten Berlins, sein Kachelmuster in Blau und Gelb ein Stück Altägypten an der Spree. Meine Lieblingsstation aber ist er, weil seine Bahnhofshalle so luxuriös breit ist, dabei recht niedrig, was ihr etwas Intimes gibt, und oft fast menschenleer. Auch ich besuche ihn seit langem eher selten, sitze dann auf der hochlehnigen Holzbank, die seit bald einem Jahrhundert hier steht, lese ein wenig, schaue mich um, denke an dies und das. Die U-Bahn-Musiker, die auf dem Bahnsteig manchmal Pause machen, stören mich nicht: Sie unterhalten sich nur leise miteinander oder schweigen. Vor... vierzig? ja, vierzig Jahren bin ich noch öfter in der Klosterstraße ausgestiegen. Das Podewilsche Palais, ein paar Schritte nur entfernt, war damals das Kulturhaus der Berliner FDJ; im Literaturclub trafen sich junge Autoren wie ich und lasen ihre Texte, worauf meist ein peinliches Schweigen folgte. Hinterher tranken wir unterm Fernsehturm ein Bier oder feierten irgendwo zu Hause. Einmal hatte eine junge Frau uns in ihre Wohnung ganz in der Nähe eingeladen; als wir den dunklen, wenig belebten Alex passierten, lief sie neben mir, nahm ein paar Züge aus meiner Zigarette. Später, es ging auf Mitternacht zu, stand sie in der Zimmertür und sagte einfach »Komm«. Küsse auf dem Flur, dann zeigte sie mir mein Bett. Noch aber waren wir nicht allein. Über ein Mißgeschick verlor ich eine Weile darauf die Lust und ging. Vielleicht wäre es gar nicht so toll geworden, sagte mir irgendwann eine Therapeutin. Aber das ist nur ein schwacher Trost. Später kamen andere, jüngere Leute in den Klub, ich fühlte mich dort nun fremd und blieb fort.
Heute spielt sich im Podewil nicht mehr viel ab. Nur eine Senatsverwaltung und das Stadtgericht gleich um die Ecke sorgen noch für Bahnhofsbetrieb. Habe ich ihm lange genug zugeschaut, schlendere ich ein wenig herum auf dem Bahnsteig. Ich suche nichts dabei und finde doch manchmal unerwartete Dinge: ein altes Buch über hellenische Mysterien und Orakel, einen zu einer Mütze gefalteten Bußgeldbescheid, eine kleine weiße Plastetüte, in der ein gänzlich schwachsinniger, broschierter Pornoroman steckt, dessen Autor ungenannt bleiben wollte. Einmal lag unter meiner Bank auch ein blauschwarz angelaufenes Stück Aluminiumfolie. Bald darauf sah ich: Zwei abgewrackt wirkende Männer erhitzten auf solchen Folien eine Substanz und zogen sich die aufsteigenden Dämpfe in die Nase. Einer, der es gerade praktizierte, hat es mir unlängst erklärt: Hier wird Heroin »auf Blech« geraucht. In den Westen fahre er fast nie, Klosterstraße habe er seine Ruhe.