Es ist noch nicht allzu lange her, die Weihnachtsmänner begannen zu trainieren und übten mancherorts schon für ihren Auftritt am Heiligabend. Da erreichte pünktlich zum ersten Adventssonntag die Verantwortlichen für das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland eine frohe Kunde. Überbringer waren die Medien und diese titelten: »Deutsche Schüler holen in Mathe auf.« (Spiegel online), »Weltweiter Pisa-Schultest. Deutsche Schüler wieder besser.« (Bild), »Pisa-Studie: Deutschlands Schüler holen deutlich auf.« (FAZ). Einige Medien gossen leider Wermutstropfen in den Freudenbecher: »Weltweiter Bildungsvergleich. Nur Platz 16!« (focus.de). Selbst die FAZ korrigierte sich und überschrieb: »Deutsche Schüler bleiben Mittelmaß.«
Die doch recht unterschiedlichen Einschätzungen verstärkten mein Interesse, mich mit eingestandenermaßen beträchtlicher Verspätung ein wenig näher mit dem Bildungswesen des Landes vertraut zu machen, dem ich als »neuer Bundesbürger« seit 23 Jahren zwangsweise angehöre. Was lag näher als mich an die zuständige Kultusministerkonferenz (KMK) zu wenden, die mir per Internet mitteilte: »PISA 2012: Schulische Bildung in Deutschland besser und gerechter. Schülerinnen und Schüler überzeugen mit guten Leistungen …« Zugleich waren sie so gütig, mir eine Broschüre »Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland 2011/2012. Darstellung der Kompetenzen, Strukturen und bildungspolitischen Entwicklungen für den Informationsaustausch in Europa« zur Verfügung zu stellen.
So machte ich mich denn ans Selbststudium und war alsbald aufgewühlt von der Viel- und Sorgfalt, mit denen ich unterrichtet wurde. Allein schon die Stichworte und Begriffe, mit denen ich zugeschüttet wurde, waren beeindruckend. Die Broschüre informierte mich unter anderem über Primarbildung, Sekundarbildung und Postsekundäre Bildung, Nicht-Tertiärer Bereich, Tertiärer Bereich, formales, non-formales und informelles Lernen, Selbststeuerung, Kompetenzentwicklung, Modularisierung, Weiterentwicklung der Qualitätssicherung in der Weiterbildung durch anerkannte Testierungsagenturen und geeignete Zertifizierungsverfahren, Modularisierung von Bildungsgängen, Teilzeitschulpflicht, Schularten mit mehreren Bildungsgängen, berufliche Schulen, Berufsfachschule, Fachoberschule, Berufsoberschule, Berufsakademien, integrierte Gesamtschule, kooperative Gesamtschule, integrierte Sekundarschule, Oberschule, Stadtteilschule, regionale Schule, Gemeinschaftsschule und so weiter und so fort.
Es ist ein Irrgarten, ein Dschungel, in dem alle möglichen Pflanzen gedeihen. Zu den prächtigsten gehören die Privatschulen, die in der Regel »Schulen in freier Trägerschaft« genannt und so definiert werden: »Das Recht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft wird durch das Grundgesetz (Art. 7 Abs. 4 – R1) und zum Teil entsprechende Bestimmungen der Landesverfassungen ausdrücklich gewährleistet. Mit dieser Privatschulfreiheit verbunden ist zugleich eine Garantie der Schule in freier Trägerschaft als Institution. Damit ist ein staatliches Schulmonopol verfassungsrechtlich ausgeschlossen … Die wichtigsten Rechtsvorschriften für die Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft sind die Schulgesetze (R85, R87, R89, R91, R93, R96, R98, R100, R102–103, R105, R107, R113, R115–117) und eigene Privatschulgesetze (R86, R94, R97, R106, R110, R114, R119) sowie Finanzhilferegelungen in Form von Gesetzen und Verordnungen der Länder.« Grundsätzliches ist über die Privatschulen nicht zu erfahren; weder die Tatsache, daß diese Bildungseinrichtungen zum größten Teil aus staatlichen Finanztöpfen funktionsfähig gehalten werden, noch der Umstand, daß für den Besuch dieser Bildungseinrichtungen zumeist ein beträchtliches Schulgeld zu entrichten ist, was sie (von ein paar Stipendiaten abgesehen) zu einem Instrument der sozialen Auslese macht. Letztere schreitet voran, denn die Zahl der Privatschulen wächst und wächst. Gab es 2001 2.414 allgemeinbildende Privatschulen mit 575.598 Schülern, so waren es 2012 bereits 3.396 mit 725.598 Schülern.
Apropos soziale Auslese, auf dieses gravierende Problem geht die aufklärerische Broschüre der KMK erst gar nicht ein. Auch auf andere Fragen bleibt sie eine Antwort schuldig, darunter auch auf die, die Heribert Prantl bereits 2010 in der Süddeutschen Zeitung gestellt hat: »Wem macht es Freude, wenn in Deutschland einige tausend verschiedene Lehrpläne gelten? Wem macht es Freude, wenn jedes Bundesland seine eigenen Hochschulen betreibt? … Wem macht es Freude, wenn ein Lehrer aus Hamburg nicht in München unterrichten darf, weil ihm ein Seminarschein fehlt? Und wer hat Freude daran, daß ein Umzug mit schulpflichtigen Kindern von Hamburg nach München einer Auswanderung nach Australien gleichkommt? ... Und wem macht es Spaß, daß jedes Land seine Schulformen festlegt?« Und der namhafte Journalist und Autor schlußfolgert, daß dieser Bildungsföderalismus »praktizierte Bürgerferne … und eine staatsrechtliche Spielform des Sadismus« ist.
Dabei hat Prantl noch nicht einmal andere Fragen gestellt, die einem ebenfalls die Haare zu Berge stehen lassen und die da wären: Weshalb wurde im Zuge der Wiedervereinigung das weltweit anerkannte Bildungssystem der DDR zerschlagen und durch das antiquierte der Bundesrepublik ersetzt? Warum erhalten rund 80 Prozent der Kinder der »Oberschicht« und nur 14 Prozent aus der »Unterschicht« an deutschen Schulen eine Gymnasialempfehlung? Wieso gibt es keinerlei ernsthafte Anstrengungen, im Bildungswesen Chancengleichheit herzustellen? Warum gibt es kein umfassendes Ganztagsschulsystem, das Kinder aus ärmeren Familien individuell fördert? Weshalb gibt die angeblich so reiche Bundesrepublik so wenig Geld für die Bildung aus, so daß sie mit gerade einmal vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes den drittletzten Platz unter den OECD-Staaten einnimmt? Wozu benötigt die BRD 16 Kultusminister, wenn diese nicht einmal versuchen, das hierzulande herrschende Bildungsunwesen zu überwinden?
Eine Antwort auf diese Fragen geben die regierenden Parteien CDU, CSU und SPD nicht, auch nicht in ihrem Koalitionsvertrag, obwohl sie darin die »überragende Bedeutung« der Bildung »für die gesellschaftliche Entwicklung, gleiche Lebenschancen der Menschen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft« betonen. Leere Floskeln, keine Taten! Das deutsche Bildungssystem wird sich unter Schwarz-Rosa nicht wesentlich verändern. Auch hier halten die Großkoalitionäre fest am Hergebrachten, denn sie wissen nur allzu gut, daß eine radikale Reform des Bildungswesens nicht par ordre du mufti, sondern nur im Zuge einer grundlegenden Umwälzung der politischen Verhältnisse möglich wäre. Nicht völlig unbekannt dürfte den Bildungslenkern auch die Erkenntnis sein: »Die Kunst, Menschen heranzubilden, hängt in jedem Land so eng mit der Regierungsform zusammen, daß es vielleicht nicht möglich ist, irgendeine bedeutende Veränderung in der öffentlichen Erziehung herbeizuzuführen, ohne eine Veränderung in der Verfassung der Staaten selbst zu bewirken.« Doch diese Worte sind des Teufels, ihnen haftet der Schwefelgeruch des »Kommunistischen Manifestes« an. In Wahrheit aber wurden sie hundert Jahre früher niedergeschrieben, von dem französischen Philosophen der Aufklärung Claude Adrien Helvétius. Es ist die Furcht vor solchen tiefgreifenden Veränderungen, die auch den jetzt regierenden Koalitionären im Nacken sitzt. Aber was soll’s? »Deutschlands Schüler bleiben [immerhin] Mittelmaß!«