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Titel032014

Griechenland am Boden  (Manfred Klingele)

Nach dem Blitzkrieg gegen die gewerkschaftlichen Rechte und die sozialen Institutionen im vergangenen Jahr erlebte Griechenland in diesem Jahr eine allgemeine Depression. Die Krise hat eine Dimension erreicht, die nicht mehr mit Begriffen wie Abschwung oder Niedergang bezeichnet werden kann. Die griechische Gesellschaft liegt am Boden.

Mehr als die Hälfte der 1,8 Millionen Beschäftigten im Privatsektor erhalten ihre Löhne mit Verspätungen von bis zu fünf Monaten ausbezahlt. Ganze Industrien sind zusammengebrochen, darunter Werften, Stahl- und Textilfabriken. In einigen Stadtvierteln von Athen, wo früher Werftindustrie angesiedelt war, liegt die Arbeitslosenrate bei über 80 Prozent. Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. Auf den Straßen sieht man mehr und mehr Bettler. Der Autoverkehr hat nachgelassen. Jedes zweite Auto, das vorbeifährt, ist ein Taxi. Nachts sind viele Häuser dunkel, da sich die Bewohner den Strom für die Lampen nicht leisten können oder die Elektrizitätsgesellschaft ihn abgestellt hat. An manchen Straßenzügen sind sämtliche Läden geschlossen. Ein Wohnungsmarkt existiert nicht mehr. Wir hörten von jemandem, der seine Eigentumswohnung verkaufen will: Anfangs bot er sie bescheiden für 80.000 Euro an und fand keinen Käufer. Jetzt ist er bei 20.000 Euro angelangt, trotzdem will niemand kaufen. Die Banken, die auf den Hypotheken für Häuser und Wohnungen sitzen, sind selber nichts mehr wert. Eine Folge davon ist: Privatunternehmen kommen nicht mehr an Kredite heran. Kein Wunder also, daß die Unternehmen die Gehälter ihrer Beschäftigten nicht auszahlen, sondern als Kredit nutzen.

Gewerkschaftliche Gegenwehr ist im Privatsektor kaum noch möglich, zur Zeit geht es nur um die Abwehr von Entlassungen. Teilnahme an einem Streik ist regelmäßig Entlassungsgrund. Der Organisationsgrad im Privatsektor ist auf 15 Prozent gesunken; rechnet man die halbprivatisierten öffentlichen Unternehmen wie Elektrizitätswerke heraus, liegt er sogar nur noch bei sieben Prozent.

Massive Sparmaßnahmen der Regierung richten sich gegen den öffentlichen Dienst. Der staatliche Sender ERT wurde über Nacht geschlossen, in Schulen und Universitäten wird Personal entlassen. Dort wehren sich die Beschäftigten noch, aber sie erhalten kaum Unterstützung. Streikgeld gibt es sowieso nicht.

Die gewerkschaftlichen Strukturen Griechenlands sind verwirrend. Dachverbände, Branchengewerkschaften (zum Beispiel für die nur 2000 Beschäftigten in Buchläden und Verlagen), Arbeiterzentren, Betriebsgewerkschaften, Basisgewerkschaften und so weiter konkurrieren miteinander. Die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes kann die griechischen Gewerkschaften offenbar nicht dazu bewegen, ihre Zersplitterung zu überwinden.

Ähnlich auf der politischen Ebene: Mehrere kommunistische Parteien wie auch trotzkistische, maoistische, anarchistische, autonome Parteien, Gruppen und Grüppchen tummeln sich. Syriza stellt einen Versuch dar, viele verschiedene Gruppen – zur Zeit sind es 18 – in einem Bündnis zusammenzuführen. Eine einheitliche breite Bewegung von unten, die eine Partei zu ihrem Werkzeug machen würde, gibt es jedoch nicht. Daran können auch Versuche nichts ändern, aus Syriza eine einheitliche Partei zu zimmern, wie es auf dem Parteitag im Juli versucht wurde.

Die auffälligste und verhängnisvollste Spaltung ist wohl die zwischen der Kommunistischen Partei (KKE) mit ihrem Gewerkschaftsbund PAME und der übrigen linken Bewegung, vor allem Syriza. Die KKE/PAME repräsentiert eine aktive, kämpferische Minderheit der Beschäftigten. Indem sie allen Widerstand allein unter ihrer Fahne zusammenführen will, schwächt sie den ohnehin schwachen Widerstand.

Der Widerstand gegen die herrschende Austeritäts- und Verarmungspolitik und gegen die faschistische Gefahr ist also erschwert, der Streik der Lehrer machte es deutlich: Die Sekundarstufenlehrer fingen schwungvoll an und hofften, eine allgemeine Bewegung anzustoßen, die zum Sturz der Regierung führen würde. Aber schon die Grundschullehrer wollten nicht aufspringen. Aus der Privatwirtschaft kam keinerlei Echo. Vorläufig hat also die Regierung mit ihrer Salamitaktik Erfolg: Eine Gruppe nach der anderen wird angegriffen und abgefertigt.

Erfolgreicher sind offenbar die Initiativen, die sich solidarisch um Lebensmittelverteilung, Gesundheitsversorgung und andere Hilfsangebote kümmern. Zwar sind sie noch klein, aber hier scheinen der Partikularismus und die Abgrenzerei nicht vorzuherrschen. An dieser politischen Sozialarbeit sind die Belegschaften in den Betrieben nicht beteiligt. Fraglich ist, ob sie und diese Initiativen sich zum politischen Widerstand zusammenfinden.

Ein beherrschendes Thema vieler unserer Gespräche war der faschistische Terror vor allem gegen Immigranten, aber auch gegen Linke, Schwule und andere Minderheiten. Die Zusammenarbeit von Sicherheitsorganen mit der faschistischen Partei Goldene Morgendämmerung (GM) war offensichtlich. Deshalb waren wir gegenüber der Forderung skeptisch, die Regierung müsse die Partei verbieten. Umso größer dann die Überraschung, als die Nachricht kam, daß die Spitze der GM verhaftet worden sei: Sie werde als verbrecherische Organisation angesehen, deshalb verliere sie ihre parlamentarische Immunität. In der Gruppe deutscher Gewerkschafter, mit der ich durch Griechenland reiste, kam die Frage auf, wie sinnvoll die Verbotsforderung sei: Man müsse befürchten, daß dann im Sinne der Totalitarismus-Doktrin demnächst auch die Linkspartei Syriza verboten werde. Griechenland braucht – gerade auch im Hinblick darauf, daß sich in Polizei und Militär faschistisches Gedankengut breit macht – eine starke Massenbewegung, ohne die der Faschismus schwerlich zu stoppen sein wird.

Nirgendwo hat die 2008 ausgebrochene, seither mit billigem Staatsgeld »bekämpfte« Wirtschaftskrise dermaßen erbarmungslos zugeschlagen wie in Griechenland. Von seinen Voraussetzungen her war Griechenland am schlechtesten auf die Krise und deren Bewältigung vorbereitet. Deshalb eignet es sich als Übungsfeld für die Durchsetzung einer Politik der Krisenbereinigung auf Kosten der breiten Bevölkerung: einer von außen verordneten Kahlschlagpolitik.

Der griechische Widerstand kann gegen diese Politik nicht erfolgreich sein, wenn er allein bleibt und keine Parallelen in anderen betroffenen Ländern findet. Eine linke Regierung hätte immerhin die Möglichkeit, auf Konfrontationskurs mit den EU-Institutionen zu gehen. Schlimmer könnte es dadurch kaum werden. Vielleicht würden die Europäische Zentralbank, die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds die Gefahr erkennen und den Griff um Griechenland lockern. Wenn jedoch auf Druck der Troika (und damit des internationalen Kapitals) die Politik des radikalen Sozialabbaus fortgesetzt wird, dann gehen die Verelendung der Arbeiterschaft und die Deklassierung der Mittelschicht weiter, und die GM wird davon profitieren. Sollte sie verboten werden oder bleiben, was keineswegs sicher ist, so werden wohl entweder Regierungskräfte selber oder eine neue Rechtspartei die Schmutzarbeiten erledigen, als da wären: Bekämpfung der Linken, der Immigranten und der sozialen Unruhen. Das wird einen weiteren Abbau der parlamentarischen Demokratie bedeuten. Die Gefahr einer mehr oder weniger offenen Diktatur (vielleicht durch das Militär mit Unterstützung der Faschisten) ist nicht gering.