Man könnte Hans Brunner – analog zum oft beschworenen Topos des »unbekannten Soldaten« – als den mehr oder weniger unbekannten Widerstandskämpfer bezeichnen. Über seine Biographie ist nämlich nicht viel mehr bekannt, als daß er 1907 geboren wurde und vor seiner Verhaftung durch die Gestapo am 13. November 1941 in der Birkengasse 39 in St. Pölten gewohnt hat. Alles, was man sonst noch über ihn weiß, ist in einem Urteil des Oberlandesgerichtes Wien gegen ihn vom 22. Januar 1943 zu finden: »Johann Brunner, der von 1926 bis 1934 bei der sozialdemokratischen Partei politisch und gewerkschaftlich organisiert gewesen war, diente als Automechaniker bei der Deutschen Reichspost; er steht zu ihr in einem beamtenrechtlichen Verhältnisse. Von Hubert Faller für die Rote Hilfe gewonnen, leistete er vom Dezember 1940 bis einschließlich September 1941 einen Geldbetrag von 1,- RM monatlich. Brunner übernahm außerdem die von dem ebenfalls bei der Reichspost in St. Pölten bediensteten, wegen Hochverratsvorbereitung bereits verurteilten Ferdinand Spiller gesammelten Beiträge einer Reihe von Reichspostangestellten, ferner die Beiträge des Postbeamten August Fiala (Verfahren zu 7OJs235/42 anhängig) sowie die Summen, die ihm der Angeklagte Brachmann ausfolgte, und leitete diese Gelder, nachdem er seinen ersten Beitrag an Faller selbst bezahlt hatte, an den [...] kommunistischen Funktionär Franz Weinhofer weiter. Ab Juli 1941 bediente sich Brunner zur Ablieferung der Sammelgelder seines Mitangeklagten Alfred Wimmer.«
Dafür verurteilte man Hans Brunner zu acht Jahren Zuchthaus, die er unter anderem im Arbeitslager Moosbierbaum absitzen mußte. Am 6. April 1945 wurde er in das KZ Mauthausen verschleppt, was in den Akten der Mordbürokratie zynisch als »Schutzhaft« bezeichnet worden ist. Dort erhielt er die Häftlingsnummer 138209 und wurde noch am 27. April 1945 ermordet. An diesem Tag haben in Wien Exponenten der bis dahin verbotenen, politischen Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ die Wiederherstellung und Unabhängigkeit Österreichs ausgerufen.
Nach 1945 hatte das offizielle Österreich jahrzehntelang scheinbar Wichtigeres und Besseres zu tun, als sich gerade an Menschen wie Hans Brunner zu erinnern. Erst 1988 wurde im Hauptpostamt 3101 St. Pölten, und zwar in einem auch für Kunden zugänglichen Stiegenaufgang zwischen Erdgeschoß und erstem Stock eine Gedenktafel mit folgendem Text angebracht: »Zum Gedenken an unsere Kollegen, die im Kampf für Österreichs Freiheit und Unabhängigkeit ihr Leben gaben: Brunner Hans † 1945, Fellner Lambert †1945, Fiala August † 1945, Schnofl Oskar † 1945, Wallner Karl † 1945. Niemals Vergessen!«
Das öffentliche Gedächtnis residierte zwar in einem Stiegenaufgang, den viele Postkunden dank des Lifts gar nicht erst zu Gesicht bekamen, aber immerhin.
Die Ansprüche an die offizielle Erinnerungs- und Gedenkkultur der Zweiten Republik waren ja notgedrungen bescheiden. Bei der offiziellen Enthüllung der Gedenktafel durch den Leiter der Postinspektion Hofrat Mag. Theodor Scheiber und den St. Pöltner Bürgermeister Willi Gruber am 16. September 1988 dankte das Stadtoberhaupt jedenfalls »jenen Männern, die sich unter Einsatz ihres Lebens gegen diese unglaubliche Barbarei stemmten« und forderte die Anwesenden auf, »diese dunklen Stunden niemals zu vergessen und die Freiheit und Demokratie stets geistig zu erneuern«.
Einige Jahre später hatte die Post diese Worte des Bürgermeisters bereits kräftig desavouiert. Denn Anfang 2002 wurde das Kundencenter im ersten Stock des Postamtes 3100 St. Pölten aufgelassen und der Stiegenaufgang dorthin mit einem Rollgitter verschlossen. Seither hing die Ehrentafel für Hans Brunner und seine Leidensgenossen in einem dunklen, abgesperrten Treppenhaus, das keiner mehr nutzte. So kurz konnte in Österreich das »Niemals Vergessen« sein. Erst ein Jahr später wurde nach diversen Interventionen die Gedenktafel am Haupteingang des Bahnhofspostamtes 3100 St. Pölten aufgehängt und damit wieder im öffentlichen Raum sichtbar. Bis 2013 jedenfalls. Dann ließ sein neuer Besitzer, die ÖBB-Infrastruktur AG, das in die Jahre gekommene Postamtsgebäude einer Generalrenovierung unterziehen. Neben dem Postamt wurde auch eine Filiale der ehemaligen Gewerkschaftsbank BAWAG/PSK untergebracht. Seitdem ist die Gedenktafel verschwunden. Mittlerweile zum zweiten Mal und diesmal vielleicht für immer.
Manfred Wieninger lebt in St. Pölten. Sein umfangreiches Werk umfaßt Romane, Erzählungen, Lyrik, Reportagen und wissenschaftliche Publikationen; darunter zahlreiche Arbeiten zu Widerstand und Verfolgung, unter anderem »Das Dunkle und das Kalte. Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs« (2011) und der zeitgeschichtliche Roman »223 oder das Faustpfand« (Residenz Verlag 2012).