Wir spazieren zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Noch strahlen die mehr oder weniger glanzvollen Molière-Aufführungen nach: »Der Geizige« in der Regie von Frank Castorf sowie »Don Juan« nach Molière von René Pollesch unter anderem mit dem herrlichen Martin Wuttke, der auch den »Eingebildeten Kranken« produzierte.
Ernsthafter Betrachtung zu unterziehen sind nun eine Inszenierung eines Dostojewski-Textes, »Die Wirtin«, und »Das Duell« von Tschechow, auch eine Erzählung beziehungsweise ein Kurzroman aus dem Jahre 1891. Die beiden Arbeiten liegen fast ein halbes Jahr auseinander, doch ich sehe da einen – immerhin russischen – Zusammenhang und beschreibe sie in diesem Sinne.
Dostojewski ist ein großer, ein wunderbarer Schriftsteller, einer der größten überhaupt, und ein übler Reaktionär; er war ein Menschenkenner und führte in die Irre; er war ein Besessener und machte seine Figuren wie Leser besessen; er ist der subjektivste bis zur Grenze einer nahezu absurden Objektivität, eben ein großer Dichter; das alles führt er in einer nicht gerade meisterhaften Geschichte wie »Die Wirtin« an drei Personen vor: an Katerina; Ilja Murin und Wassilij M. Ordynoff. Manches mag darauf hindeuten, was an dieser Geschichte Frank Castorf interessiert hat: das aktuelle Thema sozialer Ausgegrenztheit und die Dramatik der Story – daraus kann man Theater machen, eben solch hektisch-wildes Theater sozialer Verantwortung und zorniger Besessenheit. Sechs Schauspieler holen viel aus sich heraus, man geht mit, aber doch verstört hinaus, ja verdrießlich: Wie oft bei Castorf, und man weiß nicht recht, worüber: über das waltende Unrecht der Welt, über Dostojewskis Art, die hier noch mal ganz dostojewskisch ist oder über Castorfs Darstellung. Warum muß er dauernd große Prosa umdeuteln, den Dichtern mißtrauen, die doch eigentlich wußten, warum sie ihre Genres gewählt haben? Weiß das Theater wirklich immer alles besser?
Auch der Tschechow-Abend ist nicht gleich Tschechow, wie vielfach gesehen, so meisterhaft auch oft. Der geniale und Widersprüche fast jeder Art aufspürende Erzähler führt in den Kaukasus, wo verschiedenste Nationalitäten, Kulturen und Religionen beheimatet sind. Die zwei Hauptpersonen des Duells, der imperiale, fast präfaschistisch zu nennende Nikolai Wassiljewitsch von Koren (Silvia Rieger) und die sehr tschechowsche Figur Iwan Andrejewitsch Lajewskij (Sophie Rois) – mit sehr unterschiedlichen Interessen vor Ort – streiten, doch nicht dialogisch; nein, sie führen Monologe in Einsamkeit und denken und leben an der Realität vorbei, nehmen sie nicht zur Kenntnis, schon gar nicht den eigentlichen Konflikt, der inzwischen ein Weltkonflikt zu werden scheint oder gar schon ist, während ihr Streit eher ein Scheinkonflikt ist. Daß Castorf sich für solch Sujet interessiert, liegt auf der Hand, so wie er mit seinem Ensemble im politischen Ankampf auf Kunstebene richtig liegt. Die Szene von Aleksandar Denic ist so verwirrend unübersichtlich wie klar geplant – so kaukasisch wie russisch solche Dörfer eben sind, aber der erzählten Story äquivalent. Ein herber Eingriff des Regisseurs – die tschechowsche Lösung, eine Art Aussöhnung der beiden Agonisten entfällt, sie ist eher puschkinsch – Duelltod. Die zahlreichen Film-Einblendungen gehören zwar zum Castorfschen Instrumentarium, verunklären aber eher und überdrehen die Vorstellung. Und wie so oft in Tschechow-Texten: Ein Arzt (des Dichters Beruf) namens Alexander Dawidowitsch Samoilenko durchschaut die Lage, versucht den nahezu aussichtslosen, für ihn tödlichen Widerstand, womit der an die Volksbühne zurückgekehrte Hermann Beyer auf seine Art Großartiges leistet. Dabei als einziger Mann in einem Frauen-Ensemble, wo fast alle Spielerinnen Männerrollen innehaben. Hier triumphierte der Geist eines Ensembles.