Immer wieder erreichen uns Nachrichten, dass Polizisten in den USA eher auf tatverdächtige Afroamerikaner als auf tatverdächtige Weiße tödliche Schüsse abgeben. Selbst wenn erkennbar war, dass von den Opfern keine Gefahr ausgeht, werden Polizisten bislang nur selten zur Verantwortung gezogen. Dass rassistisch geprägte Praxis nicht nur bei der Polizei, sondern auch in der privatisierten Gefängnisindustrie und in der Justiz immer noch vorkommt, zeigt sich auch am Fall Mumia Abu-Jamals, der sein 35. Jahr in Gefangenschaft angetreten hat. Dass er wegen des ihm zur Last gelegten Polizistenmords nicht hingerichtet werden konnte, hing mit nachgewiesenen Schlampereien sowohl bei der Beweisaufnahme als auch in den juristischen Verfahren zusammen. Doch obwohl ein Bundesgerichtshof das Todesurteil als »verfassungswidrig« bewertete, gestand er Abu-Jamal keinen neuen fairen Prozess zu, sondern wandelte die Strafe in lebenslängliche Haft um. Bis heute gelang es jedoch nicht, den politischen Aktivisten zum Schweigen zu bringen. Mit Sendungen im Gefängnisradio, mit Artikeln und mittlerweile acht Büchern führte er aus der Zelle heraus seinen Kampf gegen Rassismus fort – neuerdings auch mit Prozessen gegen immer wieder stattfindende Verstöße gegen die verfassungsmäßigen Rechte von Gefangenen.
Am 21. Oktober 2014 wurde in Pennsylvania ein Gesetz erlassen, das es Gefangenen erschweren sollte, über ihren Fall in öffentlichen Medien zu sprechen – angeblich aus Gründen des Opferschutzes. Dass dieses Gesetz als Lex Abu-Jamal fungieren sollte, wurde offenbar, als Gouverneur Tom Corbett es nicht wie üblich im Parlament unterschrieb, sondern – umgeben von Vertretern der Polizeigewerkschaft – unter freiem Himmel, auf dem Platz, auf dem Mumia Abu-Jamal am 9. Dezember 1981 den Polizeioffizier Daniel Faulkner vorsätzlich getötet haben soll. Corbetts Aktion war ein populistischer Propaganda-Coup, denn dem Gouverneur muss bewusst gewesen sein, dass sich Abu-Jamal journalistisch prinzipiell nicht mit seinem eigenen Fall beschäftigt, sondern mit politischen Problemen der Allgemeinheit. Auch ist schwer vorstellbar, dass der Gouverneur so kurzsichtig war anzunehmen, das Gesetz werde vor der Verfassung bestehen können. Aber er hat sicher nicht damit gerechnet, dass eine Gruppe von Intellektuellen und Politikern mit Mumia Abu-Jamal an der Spitze Klage gegen das Gesetz beim Obersten Gerichtshof der USA einreichen würde – der es am 28. April 2015 erwartungsgemäß kippte.
Oder hatte man sich von dem voraussichtlich nur einige Monate in Kraft bleibenden Gesetz die Unterdrückung von Nachrichten über den sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand Abu-Jamals erhofft? Innerhalb weniger Monate hatte er 40 Kilo verloren, litt an einem extremen Hautausschlag und konnte nicht mehr gehen. Am 30. März 2015 musste er wegen eines diabetischen Schocks in einer Klinik außerhalb des Gefängnisses als Notfall behandelt werden. Während er in Todesgefahr schwebte, durfte er weder Kontakt zu seiner Anwältin noch zu seiner Familie haben, was den Verdacht bestärkt, dass die Gefängnisverwaltung bemüht war, möglichst wenig über seinen Gesundheitszustand bekannt werden zu lassen. Das Manöver missglückte dank der regen Unterstützerbewegung und eines neuen, energisch agierenden Anwaltsteams: Bret Grote vom Abolitionist Law Center in Pittsburgh und Robert Boyle aus New York. Ihre intensiven Bemühungen brachten zutage, dass Abu-Jamals gefährlicher Zustand – der wahrscheinlich auf einer bislang unbehandelt gebliebenen Hepatitis-C-Infektion beruht – das Ergebnis jahrelanger medizinischer Unterversorgung war. Das Mahanoy-Gefängnis in Frackville ließ sich dadurch jedoch in seinem Tun beziehungsweise Lassen nicht beirren.
Mag die Regierung von Pennsylvania im Fall Abu-Jamal noch immer politische Absichten verfolgen, die Gefängnisindustrie will vor allem sparen: Medizinische Unterversorgung betrifft viele, sicher nicht zufällig besonders die älteren Gefangenen. Allein in Pennsylvania bekamen von 10.000 an Hepatitis C erkrankten Gefangenen im Herbst 2015 nur fünf eine medizinische Behandlung.
So hat die Klage, die Mumia Abu-Jamal mit Hilfe seiner Anwälte beim Bundesbezirksgericht gegen die Gefängnisbehörde des Bundesstaats Pennsylvania wegen medizinischer Unterversorgung angestrengt hat, nationale Bedeutung für alle Gefangenen in den USA. Am 18. Dezember 2015 fanden die ersten Anhörungen statt. Richter Robert D. Mariani wies den Antrag der Anwältin der Gefängnisbehörde, Laura Neal, zurück, wonach Abu-Jamal noch nicht alle Rechtsmittel unterhalb des Bundesgerichts ausgeschöpft und noch nicht ausdrücklich die Behandlung seiner Hepatitis verlangt habe. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass der Gefangene dies nicht hatte tun können, weil ihm der in seinen Krankenakten seit 2012 enthaltene Verdacht auf Hepatitis C verschwiegen und eine Diagnose und Behandlung – auch nach monatelangen Beschwerden – verweigert worden waren. Während der Verhandlung kam Abu-Jamal per Videoschaltung selbst zu Wort und schilderte den Umgang der Gefängnisbehörde mit seiner Krankheit.
Bei zwei weiteren Anhörungen am 22. und 23. Dezember 2015 wurden der die Gefängnisbehörde vertretenden Anwältin Neal weitere Verdrehungen und Verschleierungen hinsichtlich der Krankenakte Abu-Jamals nachgewiesen. Solche hatte sie in eine vom Chefmediziner der Gefängnisbehörde unterzeichnete eidesstattliche Erklärung ohne dessen Wissen eingefügt, wogegen dieser sich nun verwahrte. Wenn sich das marode System der Gefängnisindustrie so krass selbst entlarvt, ist zu erwarten, dass Richter Mariani demnächst eine Entscheidung im Interesse Abu-Jamals trifft. Sie kann ein Präzedenzfall werden, der die gesundheitliche Situation in den Gefängnissen der USA entscheidend verändert.
Die Kräfte, die seit Jahrzehnten Mumia Abu-Jamals öffentlichen Einfluss zu unterbinden suchen, verübten am 28. Dezember eine Cyberattacke auf die Website des Prison-Radio, das seit zwanzig Jahren Abu-Jamals Texte sowie Nachrichten über seine Prozesse veröffentlicht. Die Inhalte sind gesichert, aber der Internetauftritt muss neu aufgebaut werden.