Der brandgefährliche Konflikt in der Ostukraine ist nicht gelöst. Er schwelt weiter. Jederzeit kann er mit verheerenden Folgen für den internationalen Frieden wieder voll ausbrechen. Juri Birjukow, der Berater des ukrainischen Präsidenten, meinte unlängst, er habe »Ekel« vor den Russen »wie vor kleinem Ungeziefer«. »Das ist jenes Gefühl, das man kurz vor dem Schlag mit dem Schlappen hat … Schade, dass unser Schlappen noch nicht bereit ist. Aber daran wird schon gearbeitet.« (sputniknews.com) Vor allem mit Hilfe der USA rüstet sich Kiew für einen neuen Waffengang mit den ostukrainischen »Terroristen«.
Derweil geht es nach der »Maidan-Revolution« stetig und steil voran. Das belegen die Worte der Bundeskanzlerin, die sie im Oktober 2015 in Berlin auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Jazenjuk äußerte: »Wir versuchen von deutscher Seite, die Reformarbeit der ukrainischen Regierung zu unterstützen. Ich möchte von meiner Seite vor allen Dingen erst einmal sagen, dass hier schon wichtige Schritte geschafft wurden, die von großer Bedeutung sind.« Und der Gast teilte hocherfreut mit: »Tatsache ist, dass vom IWF gesagt wurde: Die Ukraine führt alle Reformen durch, die versprochen wurden. Alle G7-Mitglieder haben gesagt, dass diese Regierung zehnmal mehr gemacht hat als die Regierungen in den letzten 20 Jahren.«
Die Entwicklung ist so erfreulich, dass sich sogar die US-amerikanische Botschaft in Oslo dafür einsetzte, dass der ukrainische Präsident für den Friedensnobelpreis nominiert wird. Zumindest geht das aus einem Dankschreiben hervor, das der ukrainische Parlamentspräsident am 19. Mai 2015 an den US-Geschäftsträger in der norwegischen Hauptstadt richtete. Das Vorhaben scheiterte lediglich daran, dass nur zwei der fünf Mitglieder des Nobelpreiskomitees ihre Zustimmung in Aussicht gestellt hatten.
Selbstverständlich hat eine so feine Entwicklung auch ihre Schattenseiten, kleine Schönheitsfehler. So ist es verwunder- und bedauerlich, dass der Schokoladenoligarch und Präsident Poroschenko de facto eingestanden hat, dass die gegenwärtigen Machthaber in Kiew durch einen Putsch an das Staatsruder gelangt sind. In einem Schreiben hat er das Verfassungsgericht aufgefordert, das Gesetz, mit dem sein Vorgänger im Februar 2014 abgesetzt wurde, für verfassungswidrig zu erklären. Wörtlich formulierte er: »Ich bitte das Gericht zu bestätigen, dass das Gesetz über die Entfernung von Wiktor Janukowitsch aus dem Präsidentenamt verfassungswidrig ist.« (https://deutsch.rt.com) In Kiew wird gemunkelt, dass der amtierende Präsident verhindern will, das gleiche Schicksal wie sein Vorgänger zu erleiden.
Auch wenn Jazenjuk die ukrainische Reformpolitik in den Himmel hebt, sieht es wirtschaftlich nicht gerade himmlisch aus. Die Volkswirtschaft befindet sich im Sinkflug. Auch 2015 ist sie um zehn Prozent geschrumpft. Die Inflationsrate betrug 43,3 Prozent. Der Lebensstandard hat sich in den letzten Jahren halbiert. Als Folge einer maßlosen Überschuldung droht der Staatsbankrott.
In dieser nicht gerade leichten ökonomischen Lage ist es fahrlässig, dass ausgerechnet Anhänger von Poroschenko den Rücktritt Jazenjuks fordern. Immerhin war er mit selbstloser Hilfe der USA in das hohe Amt gehoben worden. Nicht vergessen sollten seine politischen Gegner, dass er ehrlich bemüht ist, allen Wünschen der USA und der NATO nachzukommen. Auch in finanzieller Hinsicht fühlt er sich beiden eng verbunden. Seine persönliche Stiftung Open Ukraine wird von der NATO, dem britischen Finanz-Club Chatham House, dem US-Think-Tank National Endowment for Democracy und der schwedischen Swedbank finanziert (s. Ossietzky 4/2014). Inzwischen hat Jazenjuk auch für den Fall der Fälle die kanadische Staatsbürgerschaft angenommen.
Auch Poroschenko steht unter Druck. Es steht zu befürchten, dass der Präsident, der achtreichste Mann der Ukraine, in den Strudel der aktuellen Korruptionsskandale hineingerissen wird. Immerhin hat der Ex-Geheimdienstchef Naliwaitschenko brisante Dokumente veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass ein Großteil der engsten Vertrauten Poroschenkos Mitglieder eines Geldwäschekartells sind. Aber gut, der Freund Gaucks, der mit ihm fest untergehakt anlässlich des ersten Jahrestages der »Maidan-Revolution« durch Kiew marschierte, weiß sich zu wehren. Ihm missfiel, dass auf der Titelseite des Economist Fotos der »Führer der Welt« gezeigt wurden, sein Porträt aber fehlte. Kurzer Hand ließ er Putin herausmanipulieren, sein Foto an dessen Stelle setzen und das so korrigierte Cover in seinem Twitter-Account verbreiten. Der Beifall von Nutzern sozialer Netzwerke hielt sich in Grenzen.
Leichte Verwunderung rief auch hervor, dass Poroschenko den per Haftbefehl gesuchten Ex-Präsidenten Georgiens, Micheil Saakaschwili, zum Gouverneur von Odessa ernannte und ihm mittlerweile die ukrainische Staatsbürgerschaft verlieh. Einigen Großköpfigen in Kiew gefiel das nicht sonderlich, zumal der Neu-Ukrainer als möglicher Nachfolger des Noch-Premiers gehandelt wird. Sonderlich beliebt ist Jazenjuk nicht. Das zeigte sich Mitte Dezember 2015 im ukrainischen Parlament, als ihn während einer Rede ein kräftiger Abgeordneter vom Block Poroschenko als »Abschiedsgeschenk« einen Blumenstrauß überreichte und ihn danach vom Rednerpult wegtrug. Die anschließende Massenschlägerei unter den Maidan-Siegern zeugte von der Reife der parlamentarischen Demokratie in Kiew. Wie hoch sie entwickelt ist, wurde auch während einer Sitzung des Nationalen Reformrates Mitte Dezember 2015 sichtbar, als Innenminister Awakow und Saakaschwili aneinander gerieten. Ihre Wortwahl war dabei ausgesprochen höflich, ja geradezu gentlemanlike. Sie beschuldigten sich gegenseitig der Korruption. Der Innenminister nannte den ukrainischen Neubürger unter anderem einen »verfickten korrupten Gouverneur«, »Dieb«, »Abschaum«, »Bastard«, »verfickten Zirkusartisten«, »Hurensohn« und »Dummschwätzer«. Der so Beschimpfte reagierte mit den Worten: »Ich werde beweisen, dass Sie ein Dieb sind. Und ich werde beweisen, dass die Regierung die Korruption anführt. Das werde ich nie geschehen lassen … Ich habe kein Geld, im Gegensatz zu Ihnen [an Awakow gerichtet], aber ich habe ein Gewissen und einen Ruf. Und ich werde keinen Awakow, der beim Stehlen erwischt wurde, und der – wie jeder weiß – in Machenschaften verwickelt ist, in diesem Ton mit Saakaschwili sprechen lassen. Das Land weiß, dass er ein Dieb ist.« Auf dem Höhepunkt des Disputs warf der Innenminister ein gefülltes Wasserglas auf den Gouverneur. Poroschenko konnte diesen freundschaftlich-kollegialen Streit nicht schlichten. Für ihn sprang Jazenjuk in die Bresche und bezeichnete Saakaschwili als »Gastartisten« sowie als »Klatschmaul« und forderte ihn auf, das Land zu verlassen (der Freitag, 20.12.2015, übersetzt von Gunnar Jeschke).
Kommunisten waren an dieser Aussprache nicht beteiligt. Ihre Partei wurde zur Wahrung der Demokratie bereits im April 2015 verboten. Zum Ausgleich durften am Neujahrstag 2016 Tausende Nationalisten zu Ehren des Hitlerkollaborateurs Stepan Bandera erneut in einem Fackelzug durch Kiew marschieren.
Schön sind diese Episoden nicht. Aber was soll’s? Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Scheinbar dachte das auch der Präsident des EU-Parlamentes, Schulz, als er die Ratifizierung des zur Jahreswende in Kraft getretenen Assoziierungsabkommens mit der Ukraine als eine »Sternstunde der Demokratie« würdigte.