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Titel316

Das unaufgeklärte Massaker auf dem Maidan  (Frank Schumann)

Es gibt wahrlich schönere Plätze in Kiew. Dass der Maidan so aussieht, wie er ausschaut – durchschnitten von stark frequentierten Verkehrsmagistralen, verziert von patriotischen Mahn- und Denkmalen, umrandet von nicht minder hässlichen Neubauten – ist nicht zuletzt der faschistischen Okkupation geschuldet. Als Kiew am 19. September 1941 von der Wehrmacht besetzt wurde, hatte sie die Innenstadt zuvor in ein Trümmerfeld verwandelt. An der zentralen Straße, dem Kreschtschatik, steht heute nur noch ein einziges Gebäude aus der Vorkriegszeit. Die Besatzer erklärten den 1935 nach Kalinin benannten Ort zum »Platz des 19. September«, ab 1977 hieß er »Platz der Oktoberrevolution«. Vierzehn Jahre später wurde er in Maidan Nesaleschnosti, in »Platz der Unabhängigkeit« umbenannt. Seine heutige abweisende Gestalt inklusive des unterirdischen Einkaufszentrums »Globus« erhielt er um die Jahrtausendwende.


International bekannt wurde der Maidan Ende 2004, nachdem bei der Präsidentenwahl der prorussische Bewerber Janukowitsch mehr Stimmen erhalten hatte als sein Gegner Juschtschenko. Hunderttausende protestierten damals gegen das Resultat, das sie gefälscht nannten. Und weil sie orangefarbene Tücher trugen, bekam die mit viel Sympathie von den westlichen Medien begleitete Protestbewegung den Namen »Orangene Revolution«, die insofern erfolgreich war, als nach der so erzwungenen Stichwahl am 26. Dezember 2004 nunmehr Juschtschenko angeblich mehr Stimmen erhielt. Dass dieser 2010 wieder ab- und Janukowitsch zum Präsidenten gewählt wurde, lag nicht zuletzt am segensreichen Wirken von Juschtschenkos Ministerpräsidentin Julija Timoschenko. Das aber steht auf einem anderen Blatt.


Nach Darstellungen des langjährigen Moskau- und Osteuropakorrespondenten des britischen Guardian, Ian Traynor, folgte der 2004/05 in Kiew herbeidemonstrierte Machtwechsel dem schon anderenorts praktizierten Muster: So besorgte man ihn in Serbien und in Georgien, in Belorussland scheiterte man allerdings. Die Strippen der lokalen Protestbewegungen zogen stets Institutionen im Ausland, besonders in den USA. Die Hamburger Zeit schrieb von 65 Millionen Dollar, die damals Juschtschenko aus Übersee bekommen haben soll. Und die für Europa zuständige Ministerialdirektorin im Washingtoner State Department, Victoria Nuland, sprach Ende 2013 gar von fünf Milliarden, die seit 1991 in die Ukraine geflossen sein sollen, um ein der USA genehmes Regime zu etablieren.


Den USA ging es, wie aus verschiedenen Quellen zu vernehmen war, bei den Investitionen für einen angestrebten Systemwechsel immer darum, die NATO zu erweitern und die EU zu schwächen. Und es sah auch diesmal gut aus: Juschtschenko/Timoschenko signalisierten 2008 ihr Interesse an einer Mitgliedschaft sowohl in der NATO als auch in der EU. Im Gegenzug erhielt die Ukraine (gemeinsam mit Polen) den Zuschlag für die Fußball-EM 2012.


Zwischenzeitlich kehrten sich die Verhältnisse in Kiew jedoch wieder um. Juschtschenko ging 2010 in Rente, Timoschenko ins Gefängnis. Und in der Bundesrepublik begann, wie der Spiegel im letzten Heft des Jahres 2015 enthüllte, eine mit einer halben Million Euro geschmierte PR-Kampagne. Die korrupte Ex-Ministerpräsidentin Timoschenko sollte freigepresst werden, weil sie doch unter anderem für Europa war, während Janukowitsch merklich auf Distanz zur EU ging. Der wollte die guten Beziehungen zum östlichen Nachbarn nicht gegen vage Versprechungen der westlichen Nachbarn eintauschen, außerdem hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) in diesem Kontext Knebelauflagen erteilt. Als die Regierungschefs sowohl in Kiew als auch in Berlin (Merkel am 18. November 2013) fast gleichzeitig erklärten, dass die Voraussetzungen für eine Vertragsunterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU nicht gegeben seien, versammelten sich auf dem Maidan einige Hundert Demonstranten. Und nachdem Janukowitsch am 28. November auf dem EU-Gipfel in Vilnius zwar seine Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen mit der EU bekundet, aber seine Unterschrift unter einem Assoziierungsabkommen »zu jedem Preis« verweigert hatte, wurden mit Bussen Zehntausende Demonstranten nach Kiew gefahren. Am 29. November erschien auf dem Maidan erstmals auch die personifizierte »Opposition«: Arsenij Jazenjuk – der Mann der Amerikaner und damalige Kopf der Timoschenko-Partei, der Allukrainischen Vereinigung Vaterland –, Vitali Klitschko – der Zögling der Konrad-Adenauer-Stiftung – und Oleh Tjahnybok – der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Swoboda. Gemeinsam forderten sie den Rücktritt des Präsidenten, einen landesweiten Generalstreik und den Ausbau des Protestcamps auf dem »Euro-Maidan«.


Am 11. Dezember wurde der Maidan zur internationalen Show-Bühne. Victoria Nuland (»Fuck the EU«) verteilte medienwirksam Lebensmittel an die Protestler, und die EU-Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, stärkte ihnen moralisch den Rücken. Inzwischen führte der »Rechte Sektor« Regie auf dem Platz.


Am 19. Januar 2014 kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Vermummte Gestalten versuchten das Parlament zu stürmen und zündeten Fahrzeuge an. Bei den Unruhen starben fünf Menschen, viele wurden verletzt. Die Auseinandersetzungen eskalierten, und langsam begriffen einige vernünftige Politiker im Westen, dass sie daran nicht ganz schuldlos waren. Mit einer Politik des Alles-oder-Nichts kam man nicht weiter.


BRD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, seine Kollegen Laurent Fabius aus Frankreich und Radosław Sikorski aus Polen reisten am 19. Februar 2014 nach Kiew, um zwischen den beiden Konfliktseiten zu vermitteln. Als der Kompromiss (vorgezogene Präsidentenwahlen, Verfassungsreform, Bildung einer Regierung der nationalen Einheit) geschlossen und unterzeichnet war, erfolgte ein mörderisches Massaker auf dem Maidan, womit die kurz zuvor erstrittene Vereinbarung obsolet war. Ebenso die im Papier erklärte Absicht, dass unter Kontrolle des Europarates die bisherigen Gewaltakte auf dem Maidan untersucht werden würden, was die juristische Verfolgung aller Beteiligten nach sich gezogen hätte.


Den blutigen Unruhen am 20. Februar 2014 fielen über 100 Menschen zum Opfer. (»Die meisten von ihnen durch Schüsse der regimetreuen Berkut-Einheiten des Innenministeriums«, wusste etwa die Deutsche Welle am 31. März 2015.) Präsident Janukowitsch floh nach Russland. Die neuen Machthaber erklärten, die Toten gingen ausschließlich auf das Konto des nunmehr gestürzten Janukowitsch-Regimes und seiner Sicherheitskräfte.


Diese lange Vorgeschichte muss man sich vor Augen rufen. Denn trotz verschiedener Anmahnungen und Anläufe ist bisher von Kiew nichts aufgeklärt und ermittelt worden. Der Europarat monierte schon nach Jahresfrist, dass nichts passiert sei. Die Haltung des Kiewer Innenministeriums gegenüber den internationalen Ermittlern sei »unkooperativ und verschleppend«, der Geheimdienst SBU »blockiere«. Kiew sei erkennbar nicht an Aufklärung interessiert. Zeitgleich behauptete Präsident Poroschenko: Ein Berater von Präsident Putin sei unmittelbar in die Schüsse auf die proeuropäischen Maidan-Demonstranten verwickelt gewesen.


Im vergangenen Jahr hat ein aus der Ukraine stammender und seit rund 20 Jahren in Nordamerika lebender Wissenschaftler eine aktualisierte Fassung seiner in akribischer Forschungstätigkeit gewonnenen Untersuchungsergebnisse vorgelegt. Ivan Katchanovski lehrt als Dozent an der Universität Ottawa, nachdem er bereits in Harvard, Toronto und auch im US-amerikanischen Potsdam tätig war. Für seine 79 Seiten umfassende Studie (»The ›Snipers’ Massacre‹ on the Maidan in Ukraine«) hat er zahlreiche öffentlich zugängliche Quellen ausgewertet: etwa anderthalbtausend Video-Aufnahmen aus Fernsehen und Internet, Berichte von etwa hundert Journalisten, die in nationalen und internationalen Medien verbreitet wurden, hunderte Fotos, 30 Gigabyte Funkverkehr zwischen den Einsatzkräften und Kommandeuren, Zeugenaussagen, Erklärungen von Beamten und Milizionären, Gutachten über Munition und Waffen, Arztbefunde, Protokolle und dergleichen mehr (nachzulesen: https://www.academia.edu/8776021/The_Snipers_Massacre_on_the_Maidan_in_Ukraine).


Aufgrund von Schussverletzungen und -spuren kommt Katchanovski zu dem Schluss, dass die Mehrheit der tödlichen Schüsse aus etwa zwanzig Gebäuden kam, die entweder vom »Maidan«, also den Protestlern – vom Rechten Sektor bis zum naiven Mitläufer –, besetzt waren oder von ihnen kontrolliert wurden. Das Feuer auf die Berkut-Kräfte war am 20. Februar, gegen 6 Uhr, aus dem Haus des Konservatoriums eröffnet worden. Das bestätigte sowohl der seinerzeitige Hauptmann der »Selbstverteidigungskräfte« des Maidan Vladimir Parasiuk, heute Abgeordneter, als auch ein Schütze in einem BBC-Interview. Er sei auf diesen Einsatz angeblich schon seit Ende Januar vorbereitet worden. 8.50 Uhr hätten die Protestierenden, in der Mehrheit unbewaffnet, die Barrikaden in der Institutskaja- und in der Hruschewskoho-Straße auf Kommando der Maidan-Führer verlassen. Danach wurden die Protestler aus den Fenstern des Hotels »Ukraina« und aus anderen besetzten Häusern von Scharfschützen beschossen. Ein britischer Fernsehkorrespondent filmte beispielsweise um 9.30 Uhr vom Eingang des Oktober-Palastes, der von Maidan-Kräften besetzt war, wie aus einem Fenster in der 11. Etage im Hotel »Ukraina« auf dieses Haus geschossen wurde. (Wie Ermittlungen ergaben, wurden das Hotelzimmer 1132 und auch die Nachbarräume von den Swoboda-Abgeordneten Igor Jankiw, Oleg Pankewitsch und Alexander Sytsch bewohnt.)


Katchanovski konstatiert, dass die meisten Opfer jenes Tages im Kreuzfeuer starben: Sie wurden gleichzeitig von hinten, von links und rechts getroffen – nicht aber von vorn, wo die Berkut-Barrikade stand. Und als die Protestler diese stürmen wollten, hielten sie die eigenen Kommandeure plötzlich zurück.


Nach Sichtung der Quellen ist Katchanovski der Überzeugung, dass die bewaffnete Aktion sich nicht gegen die staatlichen Sicherheitskräfte gerichtet habe, und diese hätten auch nicht angegriffen. Es war keine Angriffs- oder Verteidigungshandlung weder von der einen noch von der anderen Seite, sondern eine inszenierte Mordorgie. Während des Besuches von Steinmeier, Fabius und Sikorski fand vor den Augen der Welt ein Massenmord statt, der ausschließlich dem Janukowitsch-Regime angelastet werden sollte. Das Abkommen hatte ihm quasi eine Gnadenfrist und einen geordneten Rückzug zugestanden. Das musste verhindert werden.


Katchanovskis Studie ist die einzige bislang vorliegende Untersuchung des Maidan-Massakers vor nunmehr bald zwei Jahren. Auch wenn dieses Thema inzwischen durch andere aktuelle Probleme überlagert ist, bleibt es virulent. Denn die fehlende Bereitschaft von Staatspräsident Poroschenko und Ministerpräsident Jazenjuk und seiner Regierung zur Aufklärung des Verbrechens offenbart doch nicht nur deren eigenartiges Demokratie- und Rechtsverständnis, sondern auch die blutige Basis, auf der die Kiewer Macht gründet.