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Titel317

Hoffnungslose Wundertüte  (Manfred Sohn)

Wer in den Tagen rund um Donald Trumps Amtseinführung die Wirtschaftsseiten solcher Zeitungen wie Frankfurter Allgemeine (FAZ), Handelsblatt, Süddeutsche oder auch Financial Times (FT) durchblätterte, mochte sich an längst verflossene Kindertage erinnert fühlen, als man gemeinsam mit Schulkameraden an einem Kiosk von seinem Taschengeld eine Wundertüte erworben hatte und vor dem Öffnen erst einmal rätselte und durch das Papier zu fühlen suchte, was wohl darin verborgen sei – Kamel oder Löwe, Beduine oder Ritter?

 

Obwohl die FAZ auf der Wirtschaftsseite am 19. Januar im Titel noch die »deutschen Eliten in Sorge über Trumps Politik« sah, räumte sie im Text des so überschriebenen Artikels ein, dass bei den Unternehmern immerhin zwei Drittel »auch Chancen« sähen. Dies begründete sich mit Trumps Ankündigung großer Konjunkturprogramme. Zwei Tage später – also nach der Krönungszeremonie – gab das Blatt ausführlich dem Ökonomen Thomas Straubhaar das Wort, der Trumps Wahlsieg als »vorauseilenden Gehorsam auf eine veränderte Welt« interpretierte, den neuen Präsidenten zur »Avantgarde« erklärte und prognostizierte, er werde »mit seiner Devise ›America first‹ zunächst einmal Erfolge feiern«.

 

Die »großen Sorgen«, die das Handelsblatt am 20. Januar wie andere Zeitungen »vor allem über Trumps protektionistische Wirtschaftspolitik« ausmachte, wurden gleich wieder mit Verweis darauf relativiert, dass das inzwischen entwickelte Geflecht von vertraglich fixierten Beziehungen einen abrupten Kurswechsel überhaupt nicht zuließe. Es bestünde ein großer Unterschied zwischen Twitter- und Realpolitik. Wie zum Beweis folgte der Trump-Twitter-Meinungsäußerung des 19. Januar (»Der starke Dollar bringt uns um«) kein Einbruch des Dollar, sondern, wie alle Blätter unisono zwei Tage später meldeten, eine Stabilisierung der US-Währung. Auch »die Börsen notierten etwas fester«, vermerkte das Handelsblatt.

 

Die ökonomischen Daten verweisen in der Tat darauf, dass auch Linke gut beraten sind, nach den aufregenden Tagen, in denen der Saugnapf-Mund des neuen Präsidenten alle Titelblätter beherrschte, sich selbst das Gerede vom »postfaktischen Zeitalter« aus dem Hirn zu blasen und nüchtern die Möglichkeiten und Grenzen der neuen rechten US-amerikanischen Administration zu analysieren. Eine ihrer ersten Maßnahmen war das Dekret, das bereits ausgehandelte transpazifische Handelsabkommen TPP nicht in Kraft treten zu lassen. Die Reaktionen unter den nun um die Früchte langer Nächte gebrachten Verhandlungspartnern waren nicht panisch, sondern nüchtern – aus der australischen Regierung kam der Hinweis, dann könne vielleicht China, das nach dem Willen der Obama-Administration durch das Abkommen ausgegrenzt werden sollte, in den Vertrag eintreten. Die US-Ankündigung, Strafzölle etwa gegen Autofirmen von bis zu 35 Prozent zu erheben – die EU selbst verlangt bei der Einfuhr amerikanischer Autos nur zehn Prozent – wird angesichts der langsamen Arbeit der Schiedsgerichte der Welthandelsorganisation WTO auch nicht von heute auf morgen in Kraft treten, und dementsprechend zeigen die Aktienkurse der so an den Pranger Gestellten keine Reaktionen. Am Dienstag, den 24. Januar, jedenfalls saßen die Vorstandschefs mehrerer international tätiger Automobilkonzerne beim neuen Präsidenten und empfingen eine ganz wesentliche Botschaft: Geredet wurde den Wirtschaftsmedien zufolge nicht in erster Linie über Zölle, sondern über die Meinung Donalds Trumps, »dass die Umweltregulierungen außer Kontrolle geraten seien«. Trump ein Jahr früher hätte also VW wohl einige Milliarden Dollar gespart. Hier zeichnet sich ein Deal des gelernten Immobiliendealers ab: Die Kosten für Zölle, die wir vielleicht erhöhen, holt Ihr locker wieder rein, weil wir Euch an anderer Stelle Hürden durch Umweltauflagen abbauen.

 

Trumps Rede zur Amtseinführung liest sich, wenn wir es nicht besser wüssten, wie ein Aufruf zur Revolution: »We are transferring power from Washington DC … back to you, the American people« (FT 21./22. Januar). Tatsächlich ist es eine pervertierte Revolte – sie greift die berechtigte Angst auf, dass sich selbst das amerikanische Volk ohne Hoffnung auf Besserung auf einer geseiften Rutschbahn nach unten befindet, streut aber die Illusion, das ließe sich durch ein Kreuzchen in einer Wahlkabine ändern. Alle Wortgewalt ändert nichts an der Tatsache, dass dieser neue Präsident weit weniger als alle seine Vorgänger noch ökonomische Spielräume hat, um das weitere Abrutschen breitester Volksmassen zu verhindern. Den Kern des Dilemmas hat die bereits erwähnte FAZ immerhin in einem kleineren Artikel am 21. Januar benannt – den »Anstieg der Produktivität«. Die vielgescholtene Industrieproduktion der USA ist seit Anfang der 1990er Jahre ja nicht etwa zurückgegangen, sondern um mehr als 70 Prozent gestiegen – bei gleichzeitigem Rückgang von Arbeitszeit und Beschäftigung um 30 Prozent. Dieser, wie die FAZ das formuliert »Bedeutungsverlust des produzierenden Gewerbes« ist in marxistischer Terminologie das Abschmelzen der einzig wertbildenden Substanz im Kapitalismus, der Ware Arbeitskraft. Diesen Prozess aber konnte Obama nicht aufhalten, hätte Hillary Clinton nicht aufhalten können und wird Trump nicht aufhalten. Ob Protektionismus oder ein weiterer Globalisierungsschub – alle Varianten innerhalb dieses Systems werden dessen weiteren Niedergang nicht bremsen. Wir Zeitgenossen werden Zeugen vermutlich immer irrationalerer Versuche sein, diesem Schicksal zu entkommen – Donald Trump ist einer davon; vermutlich noch nicht einmal der mit den höchsten Werten der nach oben offenen Skala von Irrationalität und Wahnsinn.