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Titel317

Was Gruseln ist  (Klaus Nilius)

»Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.« (William Faulkner, »Requiem für eine Nonne«, übersetzt von Robert Schnorr, 1949/51).

 

Vergangenheit. Mai 1934, Berlin. Nichts hilft dem jüdischen Unternehmer Adolf Osterberg, weder sein Vorname noch der Deutsche Gruß, den er den vier SA-Männern entbietet, noch dass er ein alter Frontkämpfer ist. Für seinen Fahrer bringt dieser Auto-Stopp den Tod, für ihn selbst die Entführung in einen SA-Keller. Hier wird er von Kommissar Gereon Rath befreit, der in »Lunapark« von Volker Kutscher seinen mittlerweile sechsten Fall zu lösen hat (siehe auch Ossietzky 18/2015). Politisch verschärft sich in jenen Tagen der Machtkampf zwischen SA und SS, treibt auf den sogenannten Röhmputsch zu, wie die faschistische Lügenpropaganda die von Adolf Hitler angeordnete Ermordung des Stabschefs der SA und weiterer Personen im Juli 1934 bezeichnete. Da muss ein Kriminalpolizist wie Rath, der immer noch glaubt, der »braune Spuk« erledige sich von selbst, schon aufpassen, dass er zwischen den beiden Parteien nicht unter die Räder kommt, und dabei auch noch aufklären, wie zwei SA-Männer zu Tode kamen. Adolf Osterberg, der jüdische Unternehmer, glaubt zwar ebenfalls wie Rath, alles wende sich zum Guten, denn seine Geschäfte brummen: »Das neue Deutschland braucht Uniformen!« Seine klarsichtige Frau aber hält nichts mehr in diesem Land: »Der Spuk mit den Nazis ist noch lange nicht zu Ende.« – Wieder eine spannende Geschichtsstunde mit Berliner Lokalkolorit, zu Recht im Januar 2017 auf der Krimi-Bestenliste.

 

Vergangenheit, die nicht tot ist (I). Oktober 2016, Bonn und Berlin. Ralf Melzer, der Leiter des Projekts »Gegen Rechtsextremismus« der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), und weitere Mitautoren legen ihre neue Studie »Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände« über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016 vor. Fazit: Zwar »existiert in weiten Teilen der Bevölkerung eine deutlich größere Unterstützung für humane Flüchtlingspolitik als rechtsextreme und rechtspopulistische Scharfmacher glauben machen wollen«. »Beunruhigend« sind aber »die zunehmende Polarisierung und Gewaltbereitschaft sowie das anhaltend stark verbreitete Demokratiemisstrauen« eines gefestigten und sich radikalisierenden Kerns von Menschen, der sich »von demokratischen Diskursen entkoppelt hat, feindselig denkt und verstärkt auch feindselig handelt«: Hass, Gewalt und das Bedürfnis nach Abschottung nehmen zu.

 

Vergangenheit, die nicht tot ist (II). 2016, in deutschen Landen. Till Reiners ist ein junger Kabarettist, der in Berlin lebt, Träger des Deutschen Kabarettpreises 2015, ab und an im Fernsehen zu sehen, zum Beispiel in der »NDR-Satire-Show« oder in »Die Anstalt«, und auch regelmäßig auf der Bühne des Politt-Büros in Hamburg zu Gast. An einem Abend Anfang 2016 sitzt er in einer Neuköllner Bar, neben ihm zufälligerweise ein Mann Mitte 40, wie sich herausstellt: Jude, Israeli, Geschichtsdozent an einer deutschen Uni. Man kommt ins Gespräch, und irgendwann fragt Reiners seinen Nachbarn, ob ihm die Entwicklung in Deutschland Angst mache. »Ja, na klar hab ich Angst. Aber du solltest viel mehr Angst haben.« Er als Jude könne ja nach Israel, auch wenn er die dortige Regierung nicht möge. »Aber du, mit dieser Rosa-Luxemburg-Einstellung [»Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden.« Anm. K. N., zitiert nach Band III der »Politischen Schriften«, Die Russische Revolution, 1968 EVA, S. 134], du solltest Angst haben. Dich schützt niemand.«

 

Angst ist erst einmal abstrakt. Reiners will sie verstehen, macht sich auf zu den »besorgten Bürgern«, zu Bär-/Le-/Pegida-Spaziergängen, zur AfD, zu ihren Demos und Aufmärschen. In Berlin, Dresden, Leipzig, Stuttgart, Pforzheim, Freital, Tröglitz. Inkognito. Und er entdeckt dieselbe Stimmung, wie sie schon die Studie der FES schildert, eine gesellschaftliche Stimmung, »die sich an der Grenze zwischen Wahrnehmung und Realität, Angst und Hass bewegt«.

 

Wie heißt es doch im »Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«? »Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist.«

 

 

Volker Kutscher: »Lunapark«, Kiepenheuer & Witsch, 557 Seiten, 22,99 €; Andreas Zick/Beate Küpper/Daniela Krause: »Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände«, herausgegeben von Ralf Melzer, 239 Seiten, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., 12,90 €, und als pdf über die Website der Friedrich-Ebert-Stiftung; Till Reiners: »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«, 266 Seiten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 9,99 €