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Titel317

Rule, Brexitannia!  (Johann-Günther König)

1845 erschien in Dresden der zweite Band der »Englischen Skizzen« des damals weithin bekannten Reiseschriftstellers Johann Georg Kohl (1808–1888) und seiner Schwester Ida (1808–1878). Darin finden sich im Kapitel »Wie Großbritannien dem Continente verschuldet ist« die bedenkenswerten Zeilen:

»Es würde auf den britischen Inseln beinahe gar nichts als Torfmoor und Felsengrund zurückbleiben, wenn man ihnen Alles nehmen wollte, was nicht vom ersten Anfange her ihr eigen gewesen wäre. Hätten wir den Canal nicht kühn durchkreuzt … und hätten wir keine Buchdruckerkunst, keine Pulvererfindung, kein Lutherthum, keine belgischen Wollweber, französischen Seidenwirker, keine deutschen Holzschneider, keine holländischen Schiffsbauer hinübergelassen, dann wären sie noch jetzt von halbwilden Barbaren bewohnt, die nichts zu bereiten verständen, als ›oatcake‹ und allenfalls einen Plaid … Armseliges Großbritannien! läßt du es dir in deinem jetzigen Stolze wohl nur im Allergeringsten einfallen, daß du ohne fremde Beihilfe so weit hättest zurückbleiben müssen?! […] Die Völkerschaften, welche auf die britischen Inseln hinausgingen, schmolzen … zu einem einzigen compacten Ganzen zusammen, das in dieser seiner Verschmelzung ganz neue Charaktereigenheiten erzeugte. […] Ich sage, die Engländer sind eine Misch-Nation wie keine zweite in Europa.«

 

Es ist schon lange her, da gab es eine römische Provinz, die Britannia genannt wurde. Zu ihr gehörten weder Irland noch Schottland jenseits des Hadrian-Walls. Heute gibt es den Staat beziehungsweise die Union Vereinigtes Königreich und Nord-Irland mit insgesamt rund 65 Millionen Einwohnern, von denen rund acht Millionen im Ausland geborene Zuwanderer sind. »Wir sind eines der ethnisch vielfältigsten Länder«, betont Premierministerin May zu Recht. Unter den Immigranten kommen rund drei Millionen aus EU-Mitgliedsländern – die Osteuropäer stellen mit mehr als 1,5 Millionen die stärkste Gruppe. Rund 1,2 Millionen britische Staatsbürgerinnen und -bürger wiederum leben derzeit in EU-Ländern auf dem Kontinent – viele von ihnen in Spanien und Frankreich. Alle Migranten gemeinsam beherrscht gegenwärtig die Furcht, vom geplanten Brexit heftig in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Die EU-Immigranten befürchten ihre Ausweisung, die britischen Emigranten vor allem den Verlust der bislang vom britischen National Health Service (NHS) im Rahmen der EU-Regelungen garantierten kostenlosen Gesundheitsfürsorge. Hunderttausende vom Erasmus-Programm der EU geförderte Studenten befürchten, in Großbritannien bald darauf verzichten zu müssen und zudem mit hohen Studiengebühren konfrontiert zu werden; die britischen Studenten auf dem Kontinent wiederum befürchten, die Unis verlassen zu müssen, weil sie womöglich erheblich zur Kasse gebeten werden. Und so weiter und so fort – es herrscht im Vereinigten Königreich gegenwärtig eine vor einem Jahr noch für unmöglich gehaltene Verunsicherung, die nicht nur gut die Hälfte der Bevölkerung bedrängt, die gegen den Brexit war und ist. Die gebürtige Stuttgarterin Chris(tiane) Hofmann zum Beispiel lebt in Birmingham. Sie kam vor längerer Zeit durch das Erasmus-Austauschprogramm auf die Insel und arbeitet als freie Übersetzerin. Ihr Ehemann hat eine Vollzeitstelle an der Universität von Birmingham. Die beiden haben einen acht Jahre alten Sohn, der in Birmingham auf die Welt kam, sich als Brite fühlt, aber wie seine Eltern keinen britischen Pass hat. Hofmann kommentierte die Frage eines Journalisten des Guardian, ob sie glaube, wegen des drohenden Brexits nach Deutschland zurückkehren zu müssen, so: »Wir müssen es wohl oder übel, wenn sie uns rauswerfen. Wir haben keine britische Staatsbürgerschaft beantragt. Und wenn die Regierung damit beginnt, EU-Bürger aus dem Land zu schmeißen, dann möchte ich hier auch nicht länger leben.« Die Übersetzerin ist Mitglied der Grasroot-Kampagnengruppe »EU in Brum« (Brum = Birmingham). Das ist eine der vielen Gruppen, die landauf, landab für den Verbleib in der EU kämpfen, koordiniert von der Dachplattform »Britain for Europe« (www.britainforeurope.org).

 

Premierministerin Theresa May wird den Brexit aller Wahrscheinlichkeit nach durchziehen. Koste es, was es wolle. Das verwundert nun Kenner ihrer Politik als langjährige Innenministerin kaum, war sie es doch, die bereits 2013 einige Lieferwagen mit der Botschaft herumfahren ließ: »Geht nach Hause oder macht euch auf eine Festnahme gefasst.« Sie wollte illegale Einwanderer damit zwingen, sich bei einer Hotline des Innenministeriums zu melden, um die Rückreise in ihr Herkunftsland zu regeln. Die Aktion verpuffte; nur elf Immigranten verließen daraufhin die Insel. 2015 schürte May auf dem Parteitag der Tories erneut das Feuer. Sie rief: »Einwanderer nehmen euch die Jobs weg, machen euch ärmer und ruinieren das Land. Vergesst die Fakten, seid einfach wütend auf Ausländer. Macht mich zur Vorsitzenden der Partei.« Ihre Rede ging damals selbst dem Daily Telegraph, dem Leib- und Magenblatt der Konservativen, zu weit. James Kirkup kommentierte am 6. Oktober 2015 Mays Ausfälle als »gefährlich und sachlich falsch« (eig. Übers.).

 

Seit Juli 2016 ist Theresa May Tory-Chefin, und in ihrer Funktion als Premierministerin hat sie jüngst klargestellt, wie sie sich den Brexit vorstellt. Im geschichtsträchtigen Londoner Lancaster House verkündete sie am 17. Januar, sie plane den Ausstieg aus sämtlichen europäischen Institutionen und Verträgen inklusive des Binnenmarkts mit derzeit 500 Millionen Verbrauchern und der Zollunion. Die zentralen Verhandlungspunkte nach der Austrittserklärung gemäß dem fast schon legendären EU-Artikel 50 benannte sie wie folgt: Die Einigung auf ein »mutiges und ambitioniertes Freihandelsabkommen mit der EU«; die deutliche Reduzierung der Zahl der EU-Immigranten – sie sollen fortan nicht ohne Weiteres in Großbritannien leben und arbeiten dürfen; die Beendigung der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in Großbritannien; die Einstellung britischer Beitragszahlungen zum EU-Haushalt (0,65 Prozent des Bruttonationalprodukts) – mit Ausnahme spezifischer EU-Programme, »an denen wir möglicherweise teilnehmen wollen«. May verlautbarte zudem: »Wir wollen so bald wie möglich die Rechte von EU-Bürgern, die bereits in Großbritannien leben, und die Rechte von Briten in anderen Mitgliedstaaten garantieren« und betonte: »Bei der Umwandlung des europäischen Gesetzeswerks in unsere inländischen Regeln werden wir sicherstellen, dass die Rechte von Arbeitnehmern voll geschützt und aufrechterhalten werden.« Mays »plan for Britain« gipfelt in der Vision, sie wünsche sich »ein Großbritannien, das das Potential und den Ehrgeiz besitzt, eine große, globale Handelsnation zu sein, die weltweit respektiert ist«. Übrigens nahm die Premierministerin bei ihrer Rede im Lancaster House das Wort »global« zigmal in den Mund. Sie subsumiert dabei zwar noch den unionseuropäischen Kontinent vor der Haustür als »Freund und Nachbarn«, sieht das – noch – Vereinigte Königreich aber als eine neue Macht, die »über die Grenzen Europas hinausblickt«. (Zit. u. übers. n. Guardian, 18.1.2017) Ob sich Mays Wunsch erfüllt, hängt bezeichnenderweise weniger von ihr als von den Verhandlungspartnern der Europäischen Union ab. Ob ihre Drohung, sie würde ihr Land zu einem magisch anziehenden Steuerparadies machen, wenn die Verhandlungen nicht gemäß den britischen Forderungen verliefen, verfängt – wer weiß. Angeblich soll es kein Rosinenpicken für die Briten geben. In Berlin tagt unter der Leitung von Kanzlerin Merkel jedenfalls der frisch aus der Taufe gehobene Brexit-Ausschuss, was den Schluss zulässt, dass sich die Bundesregierung gezielt auf die Austrittsverhandlungen mit den Briten vorbereitet.

 

Gewiss, es waren Briten, die knapp mehrheitlich für den Brexit votierten. Sie dürften nach der Austrittserklärung aber die Erfahrung machen, dass es die EU ist, die darüber bestimmen wird, wie er über die historische Bühne geht. Nicht zu vergessen, Umfragen zufolge wünschen zwar 90 Prozent der Briten die Aufrechterhaltung des Zugangs zum EU-Binnenmarkt, allerdings fordern 70 Prozent die strikte Begrenzung der Immigration und damit die Abkehr von einer der vier Grundfreiheiten der EU. Immerhin hat das höchste britische Gericht, der Supreme Court, Ende Januar entschieden, dass Premierministerin May entgegen ihrem Willen das Parlament – das Unter- und Oberhaus – vor der Einreichung des Austrittgesuchs in Brüssel um Zustimmung bitten muss. Ein Gesetzentwurf für den notwendigen Act of Parliament liegt regierungsseitig bereits vor. In den kommenden Wochen wird zunächst das Unterhaus über den Brexit-Plan von May und ihrem Brexit-Minister Davies debattieren und dann über das Austrittsgesetz mit einfacher Mehrheit abstimmen. Die oppositionellen Liberaldemokraten, schottischen Nationalisten, die – wenigen – Grünen und auch einige Labour-Abgeordnete haben bereits angekündigt, mit Nein stimmen zu wollen. Da Labour-Chef Jeremy Corbyn die Parlamentarier der stark kriselnden Arbeiterpartei darauf einzuschwören versucht, für die Auslösung von Artikel 50 zu stimmen, dürfte der Brexit an sich kaum mehr aufzuhalten sein. Wie sich schließlich das Oberhaus entscheidet, wo die Tories keine Mehrheit stellen, ist durchaus eine spannende Frage. Es könnte sich prinzipiell als Spielverderber erweisen. Grundsätzlich hat der Supreme Court den Brexiteers eine ab nun fortlaufende parlamentarische Kontrolle verordnet, die nicht zu unterschätzen ist. Allerdings hat das höchste Gericht zugleich entschieden, dass die Regionalparlamente beim Brexit nicht mitreden dürfen – die für den Erhalt der EU-Mitgliedschaft eintretenden schottischen, walisischen und nordirischen Regionalregierungen bleiben in diesem historischen Vabanquespiel außen vor.

 

Das folgenreiche EU-Referendum, die anstehenden Austrittsquerelen und andere Aspekte mehr beschäftigen nicht zuletzt die britischen Literaten. Die Autoren Mark Billingham, Amanda Craig und Douglas Board dürften unter den ersten sein, die in Kürze Romane dazu vorlegen. Ob sie auch über die vom Roten Kreuz als »humanitäre Katastrophe« bezeichnete Krise des NHS, des nationalen Gesundheitssystems, schreiben? Die Krankenhäuser und Ambulanzdienste sind kaum noch in der Lage, die Bevölkerung angemessen zu versorgen – Anfang Januar etwa starben zwei Patienten auf dem Flur der Erstaufnahme eines Hospitals, weil sich keiner um sie kümmerte. »Mayday, Mayday« eben – wie ich jüngst formulierte. »Mehr als irgend ein anderer Staat bildet England jetzt eine eigene Welt für sich, folgt mehr als irgend ein anderes Volk seinen eigenen Impulsen und fühlt in sich selbst seinen Halt und Schwerpunkt«, schrieben um 1844 die eingangs erwähnten Geschwister Kohl. Für unsere Gegenwart trifft das irgendwie und erneut zu. Unglaublich.