Es ist jedes Jahr dasselbe. Weihrauch wabert durch den Plenarsaal, wenn der Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt. Der Gastredner lobt die Deutschen für die gelungene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, und der Gastgeber erinnert daran, dass die Leugnung des Holocaust in Deutschland verboten ist. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Im Bundestag gab es dafür erst eine Mehrheit, als die Sache relativiert und auch die Leugnung von Verbrechen an Deutschen unter Strafe gestellt worden war.
Bundestagspräsident Schäuble dürfte das wohl noch im Hinterkopf gehabt haben, als er seine Rede bei der diesjährigen Gedenkstunde hielt, aber die Erinnerung an die unrühmliche Verrechnung von Schuld hätte den schönen Schein getrübt, in dem die deutsche Erinnerungskultur gern daherkommt, wenn es mal wieder so weit ist, den geläuterten Sünder zu geben. Es gab kein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder. Was es an Aufarbeitung der Vergangenheit gab, musste mühsam erkämpft werden. Die »ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftspolitische Daueraufgabe«, wetterte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß 1986, lähme das deutsche Volk.
Er bediente damit Ressentiments, die heute einer wie Björn Höcke von der AfD bedient, wenn er von »dämlicher Bewältigungspolitik« spricht und nach einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« verlangt. Was unterscheidet eigentlich den Satz, die Deutschen hätten das Recht, »stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«, von der Aussage, der Angriff auf die Sowjetunion sei nur deshalb abzulehnen, weil er als Angriffskrieg und nicht als Befreiungskrieg geführt worden sei? Der erste stammt vom AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland, der zweite von Alfred Dregger, ehemals Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag (Alfred Dregger: »Der Preis der Freiheit«, Universitas Verlag, München 1985, S. 11).
Denkweisen, die heute als Zeichen eines Rechtsrucks gedeutet werden, gehörten seit jeher zum Standardrepertoire des rechten Flügels der CDU und natürlich der CSU. Erst unter Angela Merkel änderte sich der Ton. Einige Jahre ging das gut, dann schallte es aus der bayerischen Ecke Richtung Berlin: Merkel muss weg. Da war die ein für alle Mal »bewältigte« Vergangenheit wieder da, konstatierte die Süddeutsche Zeitung. Bei einer EU-weiten Umfrage gaben im Jahr 2017 etwa 40 Prozent der Deutschen im Alter von 18 bis 24 Jahren an, nur wenig oder überhaupt nichts von der Vernichtung der Juden wissen. 81 Prozent der Deutschen möchten die Geschichte der Judenverfolgung gern hinter sich lassen. 58 Prozent wünschen sich gar einen Schlussstrich. Zu ihnen gehört auch Friedrich Merz, dessen Generation sich, wie er sagte, für die deutsche Vergangenheit nicht mehr in Haftung nehmen lassen will.
Heiko Maas (SPD) hat neue Ansätze des Gedenkens gefordert. Geschichte muss nach seinen Worten von einem Erinnerungsprojekt zu einem Erkenntnisprojekt werden. Keine schlechte Idee. Und warum hat seine Partei dann ihre Historische Kommission aufgelöst, von der doch entsprechende Denkanstöße zu erwarten gewesen wären? Mit offiziellen Gedenkreden ist der Unwissenheit über das Geschehen während der NS-Zeit nicht beizukommen. Das ist eine Binsenweisheit. Wie wäre es denn, wenn die Beschäftigung mit Auschwitz und den Anfängen der Naziherrschaft zu einem festen Bestandteil der schulischen Erziehung gemacht würde? Könnten nicht, wie in Frankreich, an einem bestimmten Tag in den Klassen letzte Briefe ermordeter Widerstandskämpfer verlesen werden? Die Fähigkeit, zu trauern und sich zu erinnern, ist erlernbar.