Was bei einer in jeder Hinsicht unprofessionell ausgestalteten Volksabstimmung herauskommen kann, wissen wir seit dem Juni 2016: eine knappe Mehrheit für den EU-Austritt. Was aus dem Ende 2018 vorgelegten Austrittsvertrag aus der EU wird, den zunächst sowohl Premierministerin May als auch die EU-Kommission als »beste und einzige Lösung« für einen geordneten Austritt betrachteten, wissen wir noch nicht. Seitdem am 15. Januar bei der Abstimmung im britischen Parlament die Regierung die historisch krachendste Niederlage erlitt, als 432 Abgeordnete den mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag ablehnten, gibt es bislang – noch – keine Anzeichen dafür, dass er im Unterhaus quasi in letzter Minute doch noch abgesegnet wird. Zwar überstanden die Premierministerin und ihre Tory-Regierung den von der Opposition beantragten Misstrauensentscheid, aber nach einigem Hickhack um einen sogenannten Plan B, der keiner war, versetzten die Abgeordneten bei einer turbulenten Parlamentssitzung am 29. Januar dem bereits abgelehnten Austrittsvertrag einen zusätzlichen Tritt. Auch weil Theresa May ihre wochenlang so felsenfest scheinende Position »Mein Deal, kein Deal oder kein Brexit« kurzerhand ad acta gelegt hatte und sich statt dessen für die Neuverhandlung des Backstops – der Auffangregelung für die nordirisch-irische Grenze – aussprach, stimmten die Abgeordneten im Unterhaus schließlich einem Änderungsantrag von Graham Brady (Tories) mehrheitlich zu. Er fordert die »Entfernung der Garantie für eine offene Grenze zwischen Nordirland und Irland aus dem Brexit-Abkommen«, und für die soll und will die Regierungschefin nun sorgen.
Der Backstop ist eine fest im Austrittsvertrag verankerte Notlösung für den Fall, dass sich Großbritannien und die EU nicht rechtzeitig auf ein Handelsabkommen einigen können. Er sieht vor, dass Nordirland nach dem Brexit so lange in der Zollunion mit der EU verbleiben soll, wie es nötig ist, um eine Grenze mit Kontrollen zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu vermeiden. Die 500 Kilometer lange »grüne« Grenze ist seit dem am 10. April 1998 geschlossenen Karfreitagsabkommen mehr oder weniger unsichtbar. Sie wird täglich von gut 23.000 Berufspendlern überquert, monatlich von circa 380.000 Lastwagen passiert und gewährt den problemlosen Warenhandel im Wert von rund 5,5 Milliarden Euro pro Jahr. Da die eingeschworenen Brexiteers behaupten, ihr – noch – Vereinigtes Königreich würde durch den Backstop dauerhaft in der Zollunion und damit an die EU gebunden bleiben – wobei der von ihnen geforderte Ausstieg aus der Zollunion zwangsläufig Grenzkontrollen erforderlich macht, die aber so gut wie niemand will –, ist guter Rat teuer. In den EU-Gremien gibt es bislang jedenfalls keine Zustimmung zu einer Neuverhandlung von Teilen des mit der Regierung von Theresa May abgeschlossenen Austrittsvertrages. Im Übrigen betrachtet die EU, nicht zuletzt auf Wunsch und Druck des Mitgliedstaates Republik Irland, den Backstop als unverhandelbar. Das von einigen Akteuren verlangte EU-Entgegenkommen mittels einer zeitlichen Begrenzung des Backstops zum Beispiel würde den Brexiteers einen Verhandlungsvorteil verschaffen, den in Brüssel keiner wünscht, weil nicht genehme Regelungsvorschläge der EU durch schlichtes Auf-Zeit-Spielen ausgebremst werden könnten. Die von tonangebenden Tories gegenwärtig vielbeschworenen »alternativen Regelungen« und »technischen Lösungen«, die die eigentlich demnächst wieder notwendigen klassischen Grenzkontrollen zwischen der britischen Provinz und der Republik quasi digital unnötig machen sollen, in allen Ehren. Die Verhandler der EU unter dem Beauftragten Michel Barnier halten diese Lösungsvorschläge nach wie vor für unpraktikabel.
Von den diversen Änderungsanträgen, über die am 29. Januar im Unterhaus abgestimmt wurde, kamen nur zwei durch. Der oben benannte von Graham Brady und zusätzlich der von seiner Tory-Parteikollegin Caroline Spelman: »Ablehnung eines Brexits ohne Abkommen«. Können wir folglich davon ausgehen, dass die im Austrittsvertrag vorgesehene mindestens zweijährige Übergangsfrist – alles läuft so weiter wie bisher – zum Tragen kommt? Die Mehrheit der Parlamentarier im Unterhaus wünscht in der Tat keinen harten Brexit – schauen wir also, was noch alles passiert und auch passieren muss, um in der noch verbleibenden knappen Zeit bis zum 29. März die verfahrene Austrittsvorbereitung auf einen vernünftigen Kurs zu bekommen. Um den 14. Februar wird sich das Unterhaus der Materie wieder annehmen. Mehrheitlich abgelehnt wurde am 29. Januar übrigens der Änderungsantrag der Labour-Abgeordneten Rachel Reeves. Er lautete: »Der EU-Austritt soll verschoben werden.« Theresa May bekräftigt ganz im Gegenteil unentwegt: Am 29. März 2019 wird Großbritannien die Europäische Union verlassen.
Ach ja. Gerade erschien hierzulande der neue Roman »Die Mauer« (The Wall) des britischen Bestseller-Autors John Lanchester in der deutschen Übersetzung von Dorothee Merkel. In diesem teils von der Kritik gelobten, teils als nicht überzeugend gewerteten Werk hat das Vereinigte Königreich die EU längst verlassen. Beschrieben wird das Post-Brexit-Britannien als eine von einem massiven Schutzwall eingehegte Insel, die sowohl illegale Migranten draußen halten wie auch den immer stärkeren Meereswasseranstieg abwehren will. Was der junge Wachmann Joseph Kavanagh, der auf der Mauer Dienst schiebt, alles erlebt und empfindet, verrate ich nicht. Und zwar auch deshalb, weil wir gerade die historisch bemerkenswerte Erkenntnis gewinnen können, dass es viel leichter ist, in die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Europäische Union einzutreten, als wieder aus ihr auszutreten. Ganz zu schweigen von dem Brexit-Referendum vom Juni 2016, das nach seiner Ausführung schier unlösbare Probleme und jede Menge offene Fragen aufwirft, die unsere in Wissensgesellschaften sozialisierten politischen Akteure sowohl im austrittswilligen Mitgliedstaat Großbritannien als auch im vom Austritt irritierten Kontinentaleuropa ziemlich dumm aussehen lassen.