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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Im Maxim Gorki Theater ist das zweite Jahr unter Armin Petras im Gange. Das Haus ächzt unter seinem Fleiße. Aus Freude am Schaffen? Über Erfolge? Oder unter Überdruck? Das gilt es zu prüfen.

Man besinnt sich hier jetzt auf die Dramatik des 19. Jahrhunderts – neben Kleist auch auf Hebbel bis hin zu Hauptmann. Was mag an Hebbels »Maria Magdalena« von 1846 interessieren? Die Geschichte der nichtehelichen Mutter, die den Freitod der »Schande« vorzieht, kann es wohl nicht sein. Das Problem ist erledigt, zumindest in hiesigen Breiten. In dem Stück gibt es eine andere, interessantere Figur: den Meister Anton, der die Welt nicht mehr versteht. Das wäre der Ansatz in einer Zeit vielfacher Zerstörung ohne Erneuerung, ohne Perspektiven. Meister Anton also als Hauptperson. Wenn sich ein Theater und ein Regisseur (hier Regisseurin Jorinde Dröse) für ein solches Stück entscheiden, muß auch und gerade eine solch schwierige Rolle besetzt werden können. Andreas Leupold bewältigt die Aufgabe nicht, und damit fällt die Inszenierung in die Grube. Das ist fast wörtlich zu nehmen, denn der Boden der Vorbühne ist teilweise offen, die Schauspieler balancieren angestrengt über die Fallgruben, deren Sinn nicht erkennbar ist. So erscheint diese Produktion kaum durchdacht, wenig gelungen.

Als ich im vorigen Sommer Spielzeit-Bilanz zog, anerkannte ich die außerordentliche Quantität des Programms in Petras’ erster Spielzeit und bat um deutlich mehr Qualität. Doch auch in der zweiten will der Intendant möglichst viel bieten, zu viel, als daß es gut werden könnte. Kleists »Amphitryon« (inszeniert von Jan Bosse) ist das nächste Opfer dieses Eifers. Wieder so eine Kurzfassung für GIs in der Art des Reader’s Digest, auf die leichte Komödianten-Waage gelegt. Merkur und Sosias, die beiden Diener des Gottes Jupiter und des Kriegshelden Amphitryon, erscheinen schwarz, modern mit Sonnenbrillen – wie originell! Aus einer Identitätsfrage wird bloßer Rollentausch, und dem Publikum will man nicht mehr mitteilen, als daß hier Schauspieler Theater spielen. Und nicht einmal gut. Mit Kleist-Sätzen haben sie ihre Schwierigkeiten, die sie auch noch kommentieren (»Scheißsatz!«). Zur Kleist-Frage kommt die Inszenierung nicht mal ansatzweise durch: Was geschieht eigentlich, wenn sich eine Gottheit, sprich ein Mensch mit außerordentlichen Fähigkeiten, in das Leben eines ganz gewöhnlichen Menschenpaares mit all seiner Mühsal einmischt? Hans Löw bewältigte weder die Rolle des Gottes noch des Feldherrn, und Anja Schneider als Alkmene war schon fast peinlich in ihrer Banalität. Kleist auf Possen-Eben – dann lieber keinen Kleist.

Mit Gerhart Hauptmanns »Der Biberpelz« von 1893 ging man etwas sorgfältiger um – der ist auch noch rechtlich geschützt. Neben dem Hausherrn inszenierte Ronny Jakubaschk, die Bühne baute Annette Riedel, und da war noch halbwegs Hauptmanns Welt erkennbar. Die Handlung um den gestohlenen Biberpelz ist die einer der wenigen guten deutschen Komödien. Ihre Heldin, eine Waschfrau, die weiß, wie die Großen sich bereichern, stiehlt, was sie für den Lebensunterhalt ihrer Familie braucht, und narrt dabei ihre Gegner mit Witz und Geschick – vor allem den Vertreter der Staatsmacht, von Wehrhahn. Nun hat das Gorki-Theater tatsächlich eine Schauspielerin mit dem Format für die Rolle der Waschfrau: Ursula Werner. Wie kam es, daß sie – trotz guter Phasen – Witz und Überlegenheit nicht ausspielen konnte? Ihr fehlte der Gegenspieler, und das hätte Wehrhahn sein müssen (wieder Andreas Leupold).

Nun hatte jemand vom MGT die Idee, den wuchtigen Wehrhahn klein zu machen und stattdessen den Rentier Krüger zur Allmachtsgestalt zu erhöhen. Der Krüger ist bei Hauptmann eher eine Nebenrolle, Wehrhahn der Mächtige. Doch letzterer wird lächerlich gemacht, endet im Unterhemd und bedeckt sein Gemächt mit einem Laptop – ach, wieder so ein Einfall, um den ich die Regisseure beneide! Der Krüger hat kaum Text – was soll da passieren? Mutter Wolffens Witz verpufft ins Leere, und die köstliche Diebskomödie hat bald gar keinen Witz mehr. Ursula Werner kam um ihren großen Wurf. Den Dramatiker Hauptmann bearbeiten und gar verändern zu wollen, ist fast aussichtslos.

Mehr Glück scheinen unser Theater und sein Chef mit dem Stückeschreiber Fritz Kater zu haben, der er selbst ist. »Heaven (zu Tristan)« heißt das Stück, das der Autor inszenierte, der als Regisseur Petras heißt. Warum das Versteckspiel? Immerhin hat er begriffen, daß die großen Fabeln in den alten Mythen oder Historien stecken, die man in Gegenwartsmüll stecken muß, um damit wirkungsfähigere Zeitstücke zu schreiben. Hier wird nun der Tristan-Isolde-Topos in die Film-Foto-Stadt Wolfen gesteckt. Die junge Frau Simone (Fritzi Haberlandt) ist die Isolde von Wolfen, Anders (Max Simonischek) aus der alten Grenzgegend eine Art Tristan mit Illusionen, der Pfandflaschenkönig Robert salbadert wie König Marke. Die Gegenhandlung tragen eine Helga (Susanne Böwe), einst Modell für einen Bildhauer, der »sozialistisch« genannt wird (wo ist da Sozialismus?), und der Psychiater Königsforst (Peter Kurth), die sich aber nicht mehr lieben, dennoch zusammenbleiben. Kater/Petras greift Ostprobleme auf, die deutsche und letztlich Weltprobleme sind, nur vertuscht. Da wird viel geredet und gedacht, heraus kommt kaum etwas.

Theater ist nicht für Lösungen da, doch fürs Denken, für Denkanstöße. Lustvoll ist das hier nicht, eher gequält. Immerhin geraten individuelle Konflikte in gesellschaftliche Koordinaten. Die Schauspieler sind ziemlich gut, helfen ihrem Kater/Petras und geraten nicht ins Aus des Unverbindlichen. Gelegentlich hat der Diskurs sogar ästhetische Qualität.

Ziemlich erschöpft beende ich vorerst meine Spaziergänge. Woher kommt der geistige und ästhetische Tiefstand oder auch nur das Mittelmaß des Berliner Theaters? Man kann es auf Personen zurückführen und auf konkrete sozial-kulturelle, politische Gründe. Ich möchte mich auf einige geistige beschränken.

Erstens: »Es gibt kein richtiges Denken im falschen« (Adorno). Wer meint, daß der Mensch zu allen Zeiten derselbe ist, muß fehlgehen. Nur aus der Dialektik zwischen Historizität und Aktualität können halbwegs richtige und weiterführende Menschen- und Gesellschaftsbilder kommen.

Zweitens: »Konkrete Utopie ist das Signum dieser Zeit, der Begriff der Docta spes [...] wird, einmal erfaßt, die Welt nicht mehr verlassen« (Bloch). Nur Abbilder – und dazu noch falsche – zu schaffen, den Menschen als Stück Dreck zu sehen, hilft nicht weiter. Historische Kritik und Entwürfe sind nötig. Eben: gelehrte Hoffnung.

Mit einem kleinen Opern-Ausblick kehre ich in mein häusliches Denklabor zurück. Die Oper, meist als rückwärtsgewandt gescholten, scheint mir klüger und humaner zu sein. Das Konzerthaus Berlin bot dreimal Gluck: »Orfeo und Euridice«, »Alceste« und »Paride et Elena«. Es waren Abende der Humanität (Gluck war ein Kritiker des Absolutismus).

Eines der wichtigsten Kunstereignisse der Halbsaison war die »Phaedra« von Hans Werner Henze in der Staatsoper unter den Linden. Manches fand ich wirr, doch letztlich siegte das Humanum. Peter Mussbach führte Regie, das Ensemble Modern unter Michael Boder musizierte vortrefflich.

Die Komische Oper brachte »Die Verurteilung des Lukullus« von Brecht/Dessau heraus. Katja Czellnik setzte das Stück zunächst überzeugend in Szene, fiel dann vor allem beim Volksgericht aus allen Wolken und sittlichen Normen. Doch Brecht und der ebenfalls kluge linke Modernist Paul Dessau obsiegen über die Dummheit ihrer Gegner in den Feuilletons der Berliner Tagespresse, namentlich des Herrn Hablützel (BZ).

Zuallerletzt hilft uns sogar Richard Wagner. Patrice Chéreau, Daniel Barenboim und Szenograf Peduzzi eröffneten die neue Spielzeit der Mailänder Scala mit »Tristan und Isolde«. Vom Sender arte übertragen, war das Werk auf Breitwand im Kino Delphi am Zoo zu sehen. In dieser bildlich wie orchestral luziden, aufs beste besetzten Inszenierung siegt ebenfalls das Humanum: tragische Tode im H-Dur der Hoffnung.