Nichts ist geeigneter, jüdisches Selbstverständnis zu demütigen, als die Leugnung des Holocaust. Wohl deshalb scheint diese Blasphemie untilgbar und mußte in Deutschland unter Strafe gestellt werden. Und nichts ist wiederum in Deutschland geeigneter, jemanden mit einer moralischen Keule zu erledigen und aus aller Sozial- und Diskursgemeinschaft auszugrenzen, als ihm eine Nähe zu nationalsozialistischen Praktiken und Denkweisen zu unterstellen. Weshalb politische Gegner mit Vorliebe in diese Ecke gestellt werden. In unguter Erinnerung ist Fischers Auschwitz-Vorwurf an Milosevic, um den Jugoslawienkrieg zu rechtfertigen. Aber die Methode wirkt auch eine Nummer kleiner: Den SPD-Abgeordneten Ludwig Stiegler erinnerte der CDU-Wahlslogan »Sozial ist, was Arbeit schafft« an die NS-Logik »Arbeit macht frei«. Während der Öffentlichkeitsreferent des Augsburger Bistums, Dirk Voß, die Äußerung der Grünen Claudia Roth, Bischof Mixa sei ein »durchgeknallter, spalterischer Oberfundi«, faschistoid fand. Noch frisch ist die Mahnung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff (CDU), man müsse eine »Pogromstimmung« gegen Manager verhindern, und Franz Münteferings kopflose Diffamierung der Politik der Linkspartei als »national sozial«. Und der Unterschied zwischen dem NS-Regime und der SED-Diktatur besteht laut mainstream sowieso nur darin, daß die DDR noch »durchherrschter« war.
Linke Politiker und Autoren haben sich nach meiner Beobachtung mit der Unsitte solch fragwürdig überzogener innenpolitischer Polemiken bisher zurückgehalten. Doch nun soll nach Meinung des von mir geschätzten Autors Hans Krieger, der in Ossietzky 2/09 eine Glosse schrieb, ausgerechnet der Zentralrat der Juden in Deutschland sich in einer in allen großen Tageszeitungen erschienen Anzeige zu Aussagen verstiegen haben, die zu dem Schluß berechtigen: »So könnte ein SS-Obersturmbannführer gesprochen haben und wäre vielleicht noch stolz darauf.« Satire ist ein heikles Genre.
Die Annonce des Zentralrates der Juden (die ich in der Süddeutschen Zeitung vom 10./11.1.09 gelesen habe) trägt die Überschrift: »Unsere Solidarität mit Israel: Gegen den Raketenterror der Hamas – Für eine Perspektive für die palästinensische Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen«. In dieser Anzeige zum Gaza-Krieg wird behauptet, die Hamas trage die alleinige Verantwortung für die zivilen Opfer auf beiden Seiten – was auch ich, die ich keine Freundin der Hamas bin, unhaltbar finde. Es gibt überhaupt höchst selten Konflikte, in denen die »alleinige Verantwortung« so fein säuberlich delegiert werden kann. Weiter heißt es in der Annonce: »Jedes Menschenleben zählt. Jedes Opfer – gleichgültig auf welcher Seite – ist eines zu viel.« Dann folgt der inkriminierte angebliche SS-Satz: »Es gibt keinen sauberen und ehrenhaften Krieg, der die Zivilbevölkerung schützt, wenn man gegen Terroristen kämpft.«
Ich finde diesen Satz sprachlich und gedanklich vollkommen korrekt und würde ihn jederzeit unterschreiben. Aber gerade weil es ein so hellsichtiger Satz ist, kommt es ganz und gar darauf an, welche Schlüsse man aus ihm zieht. Ich gehe davon aus, genau darum geht es Hans Krieger, aber dann ist sein Vergleich untauglich. Vielmehr wäre auszusprechen, was der allgemeingültige Satz lehren sollte, und zwar längst nicht nur Israel:
Krieg ist die exzessivste Form von Terrorismus. Der mit militärischen Mitteln nicht zu besiegen ist, sondern nur zu bestärken. Insbesondere Selbstmordattentäter sind als unkontrollierbare, wandelnde Sprengsätze mit keiner Hightech-Waffe von ihrem Tun abzuhalten. Gerade weil der Krieg gegen den Terrorismus die Zivilbevölkerung nicht schützen kann und deshalb unsauber und unehrenhaft ist, beschmutzt er die kriegführende Seite, die Aggressionen auf sich zieht. Dieser Preis ist zu hoch, in einem solchen Krieg gibt es nur Verlierer, keine Sieger. Wer nicht siegen kann, muß verhandeln, die Motive der anderen Seite verstehen. Terrorismus ist ein Schrei, der gehört werden will. Denn die schockierende terroristische Gewalt ist nur die asymmetrische Antwort des Schwächeren auf die Schockstrategie des Stärkeren. Man muß die Armut und Demütigung bekämpfen, die Terrorismus gebiert.
Doch der beanstandete Satz birgt auch eine spezifisch israelische Wahrheit. An sie erinnert Susanna Böhme-Kuby in ihrem aufschlußreichen Brief aus Jerusalem (Ossietzky 3/09): Wie könnte es nach dem einmaligen Jahrhundertverbrechen am jüdischen Volk anders sein, als daß sein historisches Bewußtsein ganz auf die Shoah, die aus ihr erwachsene Geschichte des Staates Israel mit der anhaltende Bedrohung durch die arabischen Nachbarn fixiert ist, ein Selbstbild von Opfern. Die daraus resultierende Einseitigkeit im Geschichtsbild und auch Unbarmherzigkeit gegenüber den Palästinensern rechtfertigt das Unverständnis auf der arabischen Seite dennoch nicht.
Denn einen Vorwurf kann man auch allen arabischen Ländern nicht ersparen. (Ich korrigiere mich sehr gern, wenn es irgendwo eine Ausnahme geben sollte.) Ich habe immer wieder gefragt und immer wieder erfahren: In keiner arabischen, auch keiner palästinensischen, in keiner persischen Schule wird der Holocaust je erwähnt. Wer erstmalig als Erwachsener mit dieser im Wortsinn unerhörten, unvorstellbar abgründigen Geschichte konfrontiert wird, kann sie nur für feindliche Propaganda halten. Mich hat selbst ein lange in Europa lebender, aufgeschlossener irakischer Dichter gefragt, ob es denn tatsächlich Gaskammern gegeben habe, insbesondere die Zahl der Opfer war für ihn unbegreiflich. Seither halte ich auch Mahmud Ahmadinedschad nicht unbedingt für einen zynischen Leugner, sondern für einen zunächst bedauernswert Ahnungslosen. (Daß Präsidenten gebildet sein sollten, ist nichts als eine vage Hoffnung, wie man spätestens seit Bush jun. weiß.)
Mit solcher Ignoranz jedenfalls kann in der arabischen Bevölkerung kein Mitgefühl mit dem zentralen Trauma des Nachbarn und kein Verständnis für sein Sicherheitsbedürfnis entstehen. Noch weniger ein Empfinden für die tiefsitzende Existenzangst selbst bei den Nachkommen, die zu einer Verkapselung gegenüber dem Leid anderer geführt haben könnte. »Wer lange verfolgt wird, wird schuldig«, ein Schlüsselsatz von Camus, der mir einen Teil der Welt erklärt. An der Schuld der Verfolgten haben die Verfolger ihren Anteil. Gerade deshalb erwarte ich, wenn Israelis von Deutschen moralisch verurteilt werden, eine besondere Sensibilität, zumal von reflektierenden Autoren, zumal von linken.
Die jüdische Angst, vielleicht zum zweiten Mal ausgelöscht werden zu sollen, und die Entschlossenheit, es sich diesmal nicht gefallen zu lassen, sind nachvollziehbar. Die Bagatellisierung der in den letzten Jahren durch Hamas-Raketen getöteten Israelis geht deshalb am Kern des Problems vorbei. Ab wie viel »Dutzend Todesopfer« ist eine militärische Verteidigung legitim, und ab welchem Mißverhältnis zu den Toten auf der anderen Seite wird sie zu einem Kriegsverbrechen? Die Frage ist so berechtigt wie vom Völkerrecht unbeantwortet. Wie Uri Avnery (Ossietzky 3/09) hoffe ich, daß ein unabhängiger Gerichtshof entscheiden wird, »ob solch ein Kriegsplan mit dem nationalen und internationalen Recht übereinstimmt oder ob er von Anfang an ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Kriegsverbrechen war«. Letzteres ist angesichts der maßlos überzogenen israelischen Kriegsführung nur zu wahrscheinlich.
Zumal der Verdacht nahe liegt, daß dieser Krieg in den letzten Tagen der verhängnisvollen Bush-Ära auch aus wahltaktischen Gründen geführt wurde. Das Wahlergebnis ist diffus, aber soviel läßt sich sagen: Die israelische Gesellschaft hat sich nach Rechts bewegt. Welche Koalition auch immer zustande kommen wird – die Wege zu gegenseitigem Verständnis sind noch verschütteter.
Künftige Friedensverhandlungen sollten eigentlich an keine Vorbedingungen geknüpft werden. In diesem Fall würde ich eine Ausnahme begrüßen. Beide Delegationen müßten beauflagt werden, zwei Tage vor Beginn der Gespräche anzureisen. Die Palästinenser würden verpflichtet, sich die Filme »Shoa« von Claude Lanzmann und »Nacht und Nebel« von Alain Resnais anzusehen. Und die Israelis alle Dokumente von Al Jazira über das zerbombte Gaza, all die toten und verletzten Zivilisten. Und als Nachtlektüre lägen neben Altem Testament und Koran die Bücher von Felicia Langer und Amira Hass. Dann wollen wir doch mal sehen ...