Ein »vernichtendes Urteil« habe das Bundesverfassungsgericht über »Hartz IV« abgegeben, freute sich Gregor Gysi im Namen der Linkspartei. Schön wär’s. Doch der Jubel ist fehl am Platze, denn nach der Entscheidung aus Karlsruhe wird der Streit über sozialstaatliche Hilfen für ein »menschenwürdiges Existenzminimum«, wie das Gericht den Zielhorizont nannte, erst richtig beginnen. Noch ist nicht entschieden, wer da wem etwas abringt oder wegnimmt, ob die Regelsätze und Zuwendungen in sehr bescheidenem Umfange angehoben oder ob sie am Ende gekürzt werden.
In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurden die Berechnungsweisen für die »Hartz IV«-Leistungen für nicht verfassungskonform erklärt; zur Höhe der Leistungen aber mochten die Richter nichts Kritisches aussagen, nur so viel, daß »nicht festgestellt werden kann, die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeiträge seien evident unzureichend«.
Und schon meldeten sich die Kämpfer gegen das »Sozialprasitentum« zu Worte. Im Zuge neuer Verfahrensregeln müsse der staatlichen »Schuldenbremse« Geltung verschafft und der Leistungsaufwand reduziert werden – um 30 Prozent solle man den »Hartz IV«-Regelsatz kürzen, schlägt der »Wirtschaftsweise« Wolfgang Franz vor, und Beifall findet er nicht nur bei Politikern der Netto-Partei. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will durch rasche rechtliche Neuregelungen verhindern, daß »ein kostspieliger Ermessenswahn ausbricht« – gemeint ist die durch das Karlsruher Urteil eingeräumte Chance von »Hartz IV«-Empfängern, »unabweisbaren Sonderbedarf« erst einmal einzelgerichtlich einzuklagen. Und was »Hartz IV«-Leistungen für Kinder angeht, warnen Politiker der Regierungskoalition, die sich sonst so gern um das Wohl der Kleinen besorgt zeigen, vor »Anreizen, übers Kinderkriegen Geld zu verdienen« (FDP-Generalsekretär Christian Lindner).
Daß mehr Leistungen des Staates an die Menschen, die »existenzminimal« leben müssen, eine sonst doch recht ausgabenbereite öffentliche Hand in die Insolvenz treiben würden, ist nur ein vorgeschobenes Argument; der harte Kern des Konflikts liegt dort, wo ein »Lohnabstandsgebot« beschworen wird. Die von Gerhard Schröder eingeleitete »Hartz«-Politik hatte den Sinn, für viele Jahre Lohndumping staatlich zu organisieren; das ist gelungen, und es hat die ökonomisch-sozialen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik massiv zugunsten der Kapitalseite verändert. »Hartz IV« war der Hebel, um den Niedriglohnsektor hierzulande rasant zu vergrößern und damit Druck auch auf die Lohnforderungen der Arbeitnehmer in »Normalarbeitsverhältnissen« auszuüben.
Würden die staatlichen Leistungen an »Hartz IV«-EmpfängerInnen in nennenswertem Umfange angehoben, ließe der Zwang nach, jede noch so schlecht bezahlte Arbeit zu übernehmen – so argumentieren die unternehmerischen Experten, es fehle dann an »Abstand« zum Lohneinkommen im »Niedrigsektor«. Hier das Lohnniveau zu heben, würde Profite schmälern. Der Arbeits-Reserve-»Armee« muß das Wasser bis zum Halse stehen, sonst wird sie übermütig ...
Daß die SPD und die grüne Partei sich getrauen, diese von Wirtschaftsinteressen bestimmte Politik der gezielten Herstellung von Armut systematisch zu attackieren, ist nicht zu erwarten; schließlich waren sie es, die regierend diesen Kurs eingeschlagen haben. Wie weit sich die Partei Die Linke in dieser Sache zu einem über »Nachbesserungen« hinausgreifenden Konflikt heraustraut, ist offen; sie will ja »Realismus« nachweisen. Was aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemacht wird, hängt in erster Linie von Auftritten und Aktionen außerhalb der Parlaments- und Parteienroutine ab, von der Auseinandersetzung um öffentliche Meinungen, denen gegenüber auch CDU und CSU nicht unempfindlich sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Funktion eines Erlösers. Wer »Hartz IV« wegräumen will, muß selbst etwas dafür tun.