Denis Jewsjukow, Major der Miliz, steht als Angeklagter vor dem Moskauer Stadtgericht. Er wird eines schweren Verbrechens beschuldigt: Am Abend seines Geburtstags, den er in einem Restaurant gefeiert hatte, nahm er ein Taxi. Bevor er an einem großen Lebensmittelgeschäft ausstieg, verpaßte er dem Fahrer eine Revolverkugel in den Kopf. Als Bezahlung. In dem Supermarkt eröffnete der Ordnungshüter eine wilde Schießerei. Fazit: Zwei Tote und sechs Verletzte. Den Kollegen, die ihn überwältigten, soll er gesagt haben: »Schade, daß ich keine Maschinenpistole dabei hatte.« Die medizinischen Gutachter befanden den Major für zurechnungsfähig. Sein früherer Vorgesetzter charakterisierte ihn als »diszipliniert, zuverlässig und pflichtbewußt«. Der Täter selbst zeigte im Gerichtssaal keine Anzeichen von Reue.
Der Vorfall erwies sich als der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Die Öffentlichkeit, an polizeiliche Willkür längst gewöhnt, verlangte von der Obrigkeit, endlich damit Schluß zu machen. »Die ganze Miliz auflösen!« hörte man sogar in der Staatsduma. Präsident Dmitrij Medwedew versprach eine durchgreifende Reform im Innenministerium sowie einen Personalabbau bei der Miliz um 20 Prozent. Einzige Frage: Wer wird entlassen – die Richtigen oder die Falschen?
Zweifel sind berechtigt. Alexander Gurow, Generalmajor der Miliz a. D. und heute Duma-Abgeordneter im Ausschuß für innere Sicherheit, hat in einem Interview der Komsomolskaja Prawda die Wurzeln des Übels offengelegt: Die Misere der Polizei begann vor 20 Jahren, in den Zeiten der wilden und kriminellen Privatisierung des Staatseigentums. Damals stand Gurow an der Spitze der 6. Hauptverwaltung des Innenministeriums. Er war für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, der Korruption und der Rauschgiftdelikte zuständig. Zunehmend bekam er Anweisungen, die Untersuchungen gegen hohe Beamte und Bandenchefs einzustellen. »Man hat uns die Hände gebunden«, so Gurow.
Das Jelzinsche Regime, das 1993 das oppositionelle Parlament von der Artillerie auseinanderjagen ließ, legte damals großen Wert auf die Loyalität der Polizeiführung. Berufliche Fähigkeiten und Kenntnisse spielten keine Rolle. Und der Kreml verschloß auch die Augen davor, daß sich die Generale als »Retter der Demokratie« eifrig am Prozeß der Entstaatlichung des Vermögens beteiligten. Einer privatisierte gesetzwidrig ein Gebäude, ein anderer ließ sich einen Luxus-Palast auf dem Lande bauen, der dritte erwarb eine riesige Wohnung in der historischen Stadtmitte Moskaus. Pflichtbewußte Milizionäre sahen bei diesem Gelage der Raubtiere hilflos zu. Besonders ärgerlich war es für sie, daß ihre Vorgesetzten ihnen bei Ermittlungen Knüppel zwischen die Beine warfen und sie zum Beispiel an Durchsuchungen berüchtigter Firmen hinderten, obwohl Durchsuchungsbefehle vorlagen. Vorwand: Privateigentum. Big Business wurde mit der Generalvollmacht ausgestattet, außerhalb von Recht und Ordnung zu agieren. Laut Gurow haben in den vergangenen 18 Jahren 1,5 Millionen hochqualifizierte Profis den Polizeidienst quittiert. Mehr als 80.000 pro Jahr.
Und wer besetzte die freigewordenen Stellen? Nicht wenige Neulinge hatten alles andere als Pflichterfüllung im Sinn – aus einem ganz einfachen Grunde: Der Polizist im ersten Dienstjahr in Moskau erhält kaum mehr als 20.000 Rubel im Monat, das reicht kaum für die Monatsmiete; in der Provinz bekommt er noch weniger. Viele nehmen einen Nebenjob an, zum Beispiel als Wachmann oder Ladearbeiter. Zynische junge Kollegen zogen den krummen Weg vor: Erpressung, Bestechung, Beraubung. Vergessen wir nicht die fast unkontrollierte Macht, die es den Verbrechern in Uniform ermöglicht, einen vorübergehend Festgenommenen zusammenzuschlagen oder sogar zu foltern (ohne dabei Spuren am Leibe zu hinterlassen).
Wer ist derzeit in den Polizeirevieren in der Mehrzahl? Alexander Gurow ist überzeugt: Noch sind es die Pflichtbewußten. Schön wäre es.
Über die Untaten unserer »Freunde und Helfer« berichten russische Medien ausführlich, manchmal auch genüßlich. Meldungen über Heldentaten ihrer Kollegen, die beim Schutz der Bevölkerung vor Banditen ihr Leben gaben, bleiben meist kurz und kleingedruckt. Wir wissen: Es sind nicht nur Schufte, die Uniform tragen. Und trotzdem wollen wir mit unserer Miliz möglichst nichts zu tun bekommen. Wir sind keine großen Freunde des russischen Roulette.