Guido Westerwelle. – Daß Sie so offensichtlich das Denken unterlassen, erklären Sie als Folge »sozialistischer Denkverbote«. Begännen Sie zu denken, könnte Ihnen auffallen, daß die Bereitschaft, Denkverboten zu folgen, gar nicht so groß ist, wie Sie, von sich auf andere schließend, vermuten. Und Ihnen könnte bewußt werden, daß Sie, von Ihnen unbemerkt, die bessere Einsicht längst haben und nur, vom selbstauferlegten Denkverbot gelähmt, falsch formulieren: daß der »anstrengungslose Wohlstand« der steuerhinterziehenden Millionäre nicht hinnehmbar ist und Besserstellung der Arbeitenden gegenüber den Nicht-Arbeitenden durch einen gesetzlichen Mindestlohn gesichert werden muß. Ganz einig sind wir uns mit Ihnen darüber, daß niemandem zugemutet werden darf, so zu leben wie die Spätrömer. Denn die, so wissen wir nun, verbrachten ihre Tage mit dem Ausfüllen von Formularen für die Arbeitsverwaltung und Bittbesuchen bei ihrem Fallbetreuer; wenn’s knapp war, aßen sie in der Tafel. Dekadent, so eine Lebensweise.
Frank-Walter Steinmeier. – Guido Westerwelle hat denjenigen, die seine Abneigung gegen den Sozialstaat nicht teilen, entgegengehalten, da bahne sich doch tatsächlich »eine ziemlich sozialistische Entwicklung an in dieser Republik«. Das wiederum hat Sie in Empörung versetzt – unglaublich, sagen Sie, da bezichtige doch der FDP-Spitzenmann »die halbe Republik des geistigen Sozialismus«. Nanu. Verkündete die SPD denn nicht immer, in den Programmpapieren jedenfalls, sie strebe den Sozialismus an, den demokratischen selbstverständlich? Und könnte Frank nicht froh sein, wenn selbst Guido feststellt, die halbe Republik sei nun schon von diesem Gedanken angetan? »Sozialismus«, da sind wir jetzt durch Sie unterrichtet, ist im Verständnis der SPD ein Schimpfwort.
Sigmar Gabriel. – Die Wiener Zeitung Die Presse hat Sie gefragt, ob die Hartz-Politik der SPD richtig gewesen sei. Ihre Antwort: »Teils, teils.« Mit Sicherheit habe Hartz IV die Arbeitslosigkeit drastisch verringert, »zugenommen hat jedoch auch die Zahl der Arbeitsplätze, von denen man nicht leben kann«, 20 Prozent der deutschen Arbeitnehmer hätten jetzt solche Arbeitsplätze. Offenbar ist Ihnen aufgegangen, daß die Abnahme zugleich die Zunahme war. Würden Sie ganz genau hinsehen, dann könnten Sie auch noch feststellen, daß die Arbeitslosigkeit längst nicht in dem Maße ab- wie die prekäre Beschäftigung zugenommen hat. Aber allzu genaue Kenntnis stört nur beim Drumherumreden.
Renate Künast. – »Der Machtinstinkt der Grünen ist sehr groß«, haben Sie aufmunternd den Delegierten Ihrer nordrhein-westfälischen Landespartei zugerufen. »Macht mehr möglich« hieß das Motto des Parteitags. Mehr Macht möglich? Gewiß doch, Jürgen Rüttgers hält seine CDU-Arme offen für die Grünen. Gesellschaftliche Gestaltungsmacht werden Sie da nicht bekommen, die ist schon vergeben.
Peter Ramsauer. – In Ihrem Amt als Bundesverkehrsminister sind Sie erstaunlich schnell zu neuen Einsichten gekommen: »Privatisierung um jeden Preis erweist sich in der Praxis häufig als Irrweg – Wer als Quasi-Monopolist nur auf das Börsenparkett schielt, läßt die Qualität links liegen.« Sie haben dabei die Deutsche Bahn im Auge, die Sie nicht an die Börse bringen möchten. Auch in Bayern wird Bahn gefahren. Und so hat das CSU-Bangen um Wählerstimmen seinen verkehrspolitischen Erkenntniswert. Die weiß-blaue Staatspartei kann sich weitere Kundenverluste nicht mehr leisten.
Gregor Schöllgen. – Als Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen widerlegen Sie die weitverbreitete Annahme, im geisteswissenschaftlichen Betrieb mangele es an Innovationen. Eine Gastvorlesung des Energiemanagers Gerhard Schröder, hier in seiner Eigenschaft als Altkanzler, nutzten Sie, um Ihr erfolgreiches Konzept zu verkünden: »Wir zeigen, was in Geschichte steckt. Wir kapitalisieren Geschichte. Wir verstehen uns als Dienstleister.« Mit Ihrem »Zentrum für Angewandte Geschichte« übernehmen Sie vor allem Aufträge von Unternehmern und Unternehmen, Historisches über deren wirtschaftliche Wege zusammenzutragen. Der Auftraggeber kann die Forschungsergebnisse dann annehmen oder ablehnen – einen Anspruch auf Veröffentlichung auch im Falle der Ablehnung erhebt das Zentrum nicht. Eine marktfähige Vorgehensweise: Wenn Geschichte dem, der da beschrieben wird, gefällt, kommt sie ans Publikum; wenn nicht, bleibt sie in der Schublade. Und bezahlt wird so oder so. Fürs Veröffentlichen oder fürs Verschweigen.
Elmar Brok. – Als CDU-Abgeordneter und außenpolitischer Sprecher der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament haben Sie gegen die Afghanistan-Politik der deutschen Bundesregierung Einwände erhoben, über die wir in Ossietzky 1/2010 berichteten. In einem Brief an unseren Autor machen Sie nun darauf aufmerksam, daß Sie solche Kritik seit Jahren geäußert haben. Das halten auch wir für bemerkenswert und zitieren aus der FAZ vom 22.8.2003: »Elmar Brok warnt vor dem Einsatz in Kundus ... Die geplante Entsendung stelle eine Versündigung gegen die betroffenen Soldaten und auch gegen die Entwicklung Afghanistans dar. Die Bundesregierung spiele mit dem Leben dieser Soldaten ... Brok warnte die Westmächte nachdrücklich davor, an die Praxis der einstigen Kolonialmächte anzuknüpfen ...« Damals war Gerhard Schröder Bundeskanzler. Heute regiert Angela Merkel. Sie ist offenbar nicht weniger taub gegenüber den Warnungen ihres prominenten Parteifreundes, der, wir erwähnten es schon, nicht im Verdacht steht, ein Pazifist zu sein. So hat militärische Außenpolitik ihre Kontinuität.
Uri Avnery. – Beispielhaft, wie Sie per Anzeige in Haaretz informieren und das Denken anregen: »Dies ist das ›vereinigte‹ Jerusalem: Der gewählte Bürgermeister von West-Jerusalem ist der Militärgouverneur von Ost-Jerusalem.«
Ossietzky–Leserinnen und Leser. – Der Einleitungsartikel zum vorigen Heft war redaktionell vermurkst. Pardon! Die von Fehlern bereinigte Version findet sich im Internet unter www.ossietzky.net.